Papier: 01.04.06 Partizipation und Anonymität
Originalversion
| 1 | Im Rahmen der politischen Teilhabe und Partizipation stellt |
| 2 | sich seit jeher auch die Frage, inwiefern diese |
| 3 | personalisiert oder aber anonym erfolgen kann. Kommunikation |
| 4 | im Internet beinhaltet eine neue Qualität, denn das Internet |
| 5 | wird als ein wichtiges Medium für anonyme Kommunikation |
| 6 | angesehen. Es ermöglicht einen politischen Meinungsaustausch |
| 7 | ohne unmittelbaren persönlichen Bezug und ohne direkte |
| 8 | Identifikation des Gesprächspartners. Erfolgt Kommunikation |
| 9 | anonym, ist also bei der Äußerung nicht klar, wer |
| 10 | kommuniziert, so verändert dies generell die |
| 11 | Gesprächssituation mit Folgen für die Interessen des |
| 12 | Kommunizierenden und Dritter. So entfallen zunächst |
| 13 | Informationen über den Äußernden, was die Überzeugungskraft |
| 14 | der Aussage bei Zuhörern reduzieren kann. Darüber hinaus hat |
| 15 | die anonyme Äußerung Folgen für Dritte, die von der Aussage |
| 16 | betroffen sind. Ihnen fehlen Informationen zur Einschätzung |
| 17 | des Sprechers; die Identifizierbarkeit ist erschwert, was |
| 18 | die Rechtsverfolgung beeinträchtigen kann, etwa wenn |
| 19 | Persönlichkeitsrechte durch die Aussage betroffen sind. |
| 20 | Letzteres gilt auch für die Durchsetzung öffentlicher |
| 21 | Interessen, etwa der Strafverfolgung, oder aber auch im |
| 22 | Bereich des Jugendschutzes. Dass der Sprecher sich nicht zu |
| 23 | erkennen gibt, bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich |
| 24 | und rechtlich eine Identifikation unmöglich ist. |
| 25 | |
| 26 | Mit der fehlenden Rückführbarkeit auf eine Person wird auch |
| 27 | die soziale Kontrolle weniger wirksam; so wird beobachtet, |
| 28 | dass bei anonymer Kommunikation die Sprecher enthemmt sein |
| 29 | können bzw. sich nicht an soziale Konventionen halten. Die |
| 30 | Verringerung sozialer Kontrolle ist, anders herum, |
| 31 | beispielsweise in Abhängigkeitsbeziehungen etwa bei |
| 32 | Arbeitnehmern oder Auszubildenden mit der Möglichkeit |
| 33 | verbunden, sich ohne Furcht vor Sanktionen äußern zu können. |
| 34 | Insofern können der öffentlichen Kommunikation Äußerungen |
| 35 | verloren gehen, die – wenn keine anonyme Kommunikation |
| 36 | möglich ist – aus Furcht vor solchen Reaktionen |
| 37 | unterbleiben. Die anonyme oder pseudonyme Nutzung ermöglicht |
| 38 | es den Bürgerinnen und Bürgern also, im Einzelfall und nach |
| 39 | ihrem eigenen Dafürhalten eine Meinung frei artikulieren zu |
| 40 | können, ohne Ächtung und Nachteile befürchten zu müssen. |
| 41 | Dies ist essentiell für die freie Meinungsbildung in einer |
| 42 | Demokratie. Es entspricht zudem auch der Begegnung im |
| 43 | öffentlichen Raum, wo sich Menschen zunächst ohne |
| 44 | Namensnennung begegnen und einander dann vorstellen, wenn |
| 45 | sie selbst es für geboten halten. |
| 46 | |
| 47 | Welche der vorgenannten Wirkungen des anonymen |
| 48 | Kommunizierens für rechtliche Einordnungen relevant sind, |
| 49 | hängt daher stark vom Kontext der Äußerungen ab. [FN: Vgl. |
| 50 | zu den vorgenannten Kriterien und ihrer rechtlichen |
| 51 | Einordnung Heilmann, Stefan (2012): Informationspflichten im |
| 52 | Telemedienrecht und User-generated Content, Hamburg (in |
| 53 | Vorbereitung).] |
| 54 | |
| 55 | Politische Auseinandersetzungen in Demokratien werden in |
| 56 | unterschiedlichen Medien und Ebenen geführt. Hierbei können |
| 57 | auch wiederkehrende Abläufe und Verhaltensweisen |
| 58 | festgestellt werden. So wird beispielsweise gefordert, dass |
| 59 | die politische Auseinandersetzung im Regelfall mit „offenem |
| 60 | Visier“ stattfinden sollte. Schließlich sei eine |
| 61 | Personalisierung von politischen Äußerungen in Deutschland |
| 62 | auch nicht mit vergleichbaren negativen Folgen verbunden, |
| 63 | wie dies in autoritären Regimen ohne einen die Grundrechte |
| 64 | garantierenden Rechtsstaat der Fall ist. Für die Staaten des |
| 65 | Arabischen Frühlings war die Möglichkeit einer anonymen |
| 66 | Kommunikation ein wichtiger Faktor, der das Aufbäumen für |
| 67 | mehr Demokratie gefördert hat. Denn die Möglichkeit zur |
| 68 | freien Meinungsäußerung, unbeobachteten Kommunikation oder |
| 69 | aber unabhängige Medien waren in diesen Staaten größtenteils |
| 70 | nicht vorhanden bzw. wurden eingeschränkt. Das Internet und |
| 71 | auch die Sozialen Netzwerke haben daher einen wichtigen |
| 72 | Beitrag für die Freiheitsbewegungen in diesen Ländern |
| 73 | geleistet. Besonders in anderen Staaten, in denen Menschen |
| 74 | noch immer nicht frei ihre politische Überzeugung und |
| 75 | Meinung äußern können, spielt die durch das Internet |
| 76 | gewährleistete Anonymität eine grundlegende Rolle bei der |
| 77 | politischen Diskussion. |
| 78 | |
| 79 | Gleichwohl können sich Nachteile ergeben, etwa durch den |
| 80 | Bezug zu einem Arbeitgeber. Darüber hinaus wird angeführt, |
| 81 | dass politische Auseinandersetzungen gerade von einer |
| 82 | namentlichen Zuordnung zu einzelnen Aussagen profitieren |
| 83 | können. Eine persönliche Verantwortung für den Inhalt könne |
| 84 | ihnen eine höhere Bedeutung verleihen und sie können somit |
| 85 | auch an Einfluss gewinnen. Nichtsdestotrotz obliegt es in |
| 86 | einer freiheitlichen Gesellschaft letztlich dem |
| 87 | Kommunikationsteilnehmer selbst, wie er sich und seine |
| 88 | politische Auffassung präsentieren möchte. Schließlich trägt |
| 89 | er hierfür auch die Verantwortung. |
| 90 | |
| 91 | |
| 92 | |
| 93 | Die nachfolgenden Kapitel sind durch die Fraktionen CDU/CSU |
| 94 | und FDP streitig gestellt. Es liegt ein Alternativtext vor |
| 95 | (s. A-Drs. 17 (24) 053 A, |
| 96 | http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun |
| 97 | gen/20120625/A-Drs_17_24_053_A_-_PG_Demokratie_und_Staat_Alt |
| 98 | ernativtext_CDU_CSU_und_FDP_Kap__1_4_2_5_1__1_4_2_5_2.pdf ) |
| 99 | |
| 100 | |
| 101 | Anonymität im Internet |
| 102 | Den normativen Rahmen bildet der verfassungsrechtliche |
| 103 | Schutz der Kommunikation in seiner derzeitigen Gestalt. Der |
| 104 | Rahmen ist komplex und in den Strukturen umstritten, er kann |
| 105 | hier nur skizziert werden. Anknüpfend an verschiedene |
| 106 | mögliche Formen des anonymen Handelns wäre zunächst das |
| 107 | anonyme bloße Surfen zu thematisieren. Für dessen Schutz |
| 108 | erscheint eine Herleitung aus dem Allgemeinen |
| 109 | Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 |
| 110 | GG, möglich. [FN: so etwa Denninger, Erhard, Anonymität – |
| 111 | Erscheinungsformen und verfassungsrechtliche Fundierung, in: |
| 112 | Bäumler, Helmut/von Mutius, Albert (Hrsg.) (2003): |
| 113 | Anonymität im Internet – Grundlagen, Methoden und Tools zur |
| 114 | Realisierung eines Grundrechts, Braunschweig, S. 41 ff.] |
| 115 | Ebenso wird auf das Recht auf informationelle |
| 116 | Selbstbestimmung zurückgegriffen. [Vgl. Bäumler, Das Recht |
| 117 | auf Anonymität, a.a.O., S. 1 ff.] Schwieriger ist die |
| 118 | Einordnung aktiver kommunikativer Nutzung. |
| 119 | |
| 120 | Wenn es um die aktive anonyme Kommunikation geht, geraten |
| 121 | auch die Kommunikationsfreiheiten ins Blickfeld. Hier ist |
| 122 | Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die Meinungsfreiheit, betroffen, auch |
| 123 | anonym Geäußertes ist grundsätzlich geschützt. Dies hat die |
| 124 | Rechtsprechung jüngst auch für Internet-basierte |
| 125 | Kommunikation herausgearbeitet, sehr deutlich vor allem im |
| 126 | Rahmen der „Spickmich-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs |
| 127 | (BGHZ 181, 328 = NJW 2009, 2888 = MMR 2009, 608 |
| 128 | „Spickmich“). Darin ging es um die Zulässigkeit |
| 129 | personenbezogener Bewertungsportale (in diesem Falle von |
| 130 | Lehrern) im Internet. Zum Wert der anonymen Kommunikation |
| 131 | führte der BGH aus: |
| 132 | |
| 133 | „[38] Die Datenerhebung ist auch nicht deshalb unzulässig, |
| 134 | weil sie wegen der begrenzten Anzahl der anonymen |
| 135 | Bewertungen ungeeignet wäre, das Interesse der Nutzer zu |
| 136 | befriedigen. Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent |
| 137 | (vgl. Senat VersR 2007, 1004, 1005 [= MMR 2007, 518]). |
| 138 | Dementsprechende Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten ggü. |
| 139 | dem Diensteanbieter finden sich in den §§12 ff. TMG, den |
| 140 | Nachfolgeregelungen zu §4 Abs. 4 Nr.10 TDG. Eine |
| 141 | Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, |
| 142 | die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können, |
| 143 | ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die |
| 144 | Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung |
| 145 | zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich, um den |
| 146 | es im Streitfall geht, die Gefahr begründen, dass der |
| 147 | Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen |
| 148 | negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine |
| 149 | Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll |
| 150 | durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung |
| 151 | entgegengewirkt werden (vgl. Ballhausen/Roggenkamp, K&R |
| 152 | 2008, 403, 406).“ |
| 153 | |
| 154 | Diese Wertung steht im Einklang mit früheren Entscheidungen |
| 155 | des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. Demnach |
| 156 | verleiht die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit als |
| 157 | „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in |
| 158 | der Gesellschaft“ [BVerfGE 7, 198, 208; siehe auch BVerfGE |
| 159 | 85, 23, 31.] dem Einzelnen das Recht, autonom darüber zu |
| 160 | entscheiden, ob er seine Identität in der Kommunikation zu |
| 161 | erkennen gibt. |
| 162 | |
| 163 | Dass anonym Geäußertes vollen grundrechtlichen Schutz |
| 164 | genießt, bedeutet nicht, dass der Staat das anonyme |
| 165 | Kommunizieren nicht ganz oder teilweise unterbinden, also |
| 166 | etwa Kennzeichnungspflichten als grundrechtseinschränkende |
| 167 | Maßnahmen vorsehen darf. Dazu existieren bereits Regelungen |
| 168 | zu den „allgemeinen Informationspflichten“ in Form des § 5 |
| 169 | Abs. 1 TMG und § 55 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag, wobei |
| 170 | letzterer Kommunikation ausschließlich zu privaten Zwecken |
| 171 | von Kennzeichnungspflichten befreit, also anonym zulässt. |
| 172 | Die Regelungen arbeiten mit zahlreichen unbestimmten |
| 173 | Begriffen („persönliche oder familiäre Zwecke“, „in der |
| 174 | Regel entgeltlich“, „geschäftsmäßig“), was die Anwendung |
| 175 | erschwert, zumal auch der Adressat der Regelung nicht immer |
| 176 | eindeutig zu bestimmen ist (der Plattformanbieter, der Autor |
| 177 | eines Blogbeitrages oder gar eines einzelnen |
| 178 | Twitter-Feeds?). |
| 179 | |
| 180 | Kennzeichnungspflichten reagieren auf Risiken anonymer |
| 181 | Kommunikation, etwa Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung (im |
| 182 | Hinblick auf kommerzielle oder auch etwa |
| 183 | persönlichkeitsrechtliche Interessen), aber auch |
| 184 | Manipulationsrisiken. [FN: vgl. etwa Gomille, Christian: |
| 185 | Prangerwirkung und Manipulationsgefahr bei Bewertungsforen |
| 186 | im Internet, ZUM 2009, 815, 821 f.] Als ein mögliches |
| 187 | Szenario sei etwa die Vortäuschung von Meinungsmacht über |
| 188 | die Verwendung mehrerer Identitäten auf Bewertungsportalen |
| 189 | genannt (sock-puppeting). |
| 190 | |
| 191 | Kennzeichnungspflichten greifen ihrerseits in Grundrechte |
| 192 | ein, je nach Angebot in Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit) |
| 193 | oder Abs. 2 GG (Medienfreiheiten), auch Eingriffe in andere |
| 194 | Grundrechte sind je nach Kontext und Folgen möglich. |
| 195 | |
| 196 | Über eine „kommunikationstheoretische Deutung des |
| 197 | allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ kommt Bizer [FN: Bizer |
| 198 | Johann, Das Recht auf Anonymität in der Zange gesetzlicher |
| 199 | Identifizierungspflichten, in: Bäumler, Helmut/von Mutius, |
| 200 | Albert (Hrsg.) (2003): Anonymität im Internet – Grundlagen, |
| 201 | Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts, |
| 202 | Braunschweig, S. 78 ff.] darüber hinaus explizit zu einem |
| 203 | Recht auf Anonymität. Hintergrund solcher Ansätze zur |
| 204 | Begründung eines Rechts auf anonyme Kommunikation sind |
| 205 | Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur namentlichen |
| 206 | Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich Personen am |
| 207 | Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert sehen, weil |
| 208 | sie die Konsequenzen einer Äußerung fürchteten. Es soll |
| 209 | verhindert werden, dass in solchen Situationen eine Form der |
| 210 | Selbstzensur greift (siehe auch BGH, a.a.O.). Es liegt nahe, |
| 211 | dass dort, wo eine Pflicht zum Klarnamen besonders |
| 212 | weitreichende Folgen hat – also etwa der öffentlichen |
| 213 | Kommunikation, bei der strukturell Inhalte verloren gehen – |
| 214 | die Beeinträchtigung der Kommunikationsfreiheit besonders |
| 215 | groß ist. Ob das derzeitige rechtliche Konzept der |
| 216 | Kennzeichnungspflichten den verfassungsrechtlichen |
| 217 | Anforderungen genügt, ist bislang weder wissenschaftlich |
| 218 | noch in der Rechtsprechung abschließend geklärt. |
| 219 | |
| 220 | Zudem verweist der BGH auf einfachgesetzlicher Ebene darauf, |
| 221 | dass die §§ 12 ff. TMG den Nutzern grundsätzlich ein Recht |
| 222 | zur anonymen Nutzung des Internets einräumen (müssen), |
| 223 | insbesondere aus § 13 Abs. 6 TMG [FN: Roggenkamp Jan, |
| 224 | Kommentar zu: BGH, Urteil vom 23.06.2009 - VI ZR 196/08, |
| 225 | Kommunikation und Recht (K&R), 2009, 571, 572.]; siehe dazu |
| 226 | Rz. [42] des Urteils. |
| 227 | |
| 228 | Das deutsche Recht sieht – sowohl im Telemediengesetz als |
| 229 | auch im Rundfunkstaatsvertrag – die Ermöglichung einer |
| 230 | anonymen und pseudonymen Nutzung vor, soweit dies technisch |
| 231 | möglich und zumutbar ist. Darüber hinaus muss der Nutzer |
| 232 | über diese Möglichkeit informiert werden. Damit soll von |
| 233 | vornherein die Entstehung personenbezogener Daten verhindert |
| 234 | werden und somit dem Recht auf informationelle |
| 235 | Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 |
| 236 | GG Rechnung getragen werden. Ziel der Regelung war es, der |
| 237 | im digitalen Kontext allgegenwärtigen Identifizierbarkeit |
| 238 | durch die Zuordnung eindeutiger digitaler Kennungen |
| 239 | entgegenzutreten. Die Begriffe „anonymisieren“ und |
| 240 | „pseudonymisieren“ werden im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) |
| 241 | in § 3 „Weitere Begriffsbestimmungen“ definiert. Unter dem |
| 242 | Begriff anonymisieren wird die Veränderung personenbezogener |
| 243 | Daten derart verstanden, „dass die Einzelangaben über |
| 244 | persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur |
| 245 | mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten |
| 246 | und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren |
| 247 | natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Mit dem |
| 248 | Begriff „pseudonymisieren“ ist „das Ersetzen des Namens und |
| 249 | anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“ |
| 250 | gemeint, „zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen |
| 251 | auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“ |
| 252 | |
| 253 | Die Ermöglichung einer anonymen und pseudonymen Nutzung |
| 254 | basiert auf der RICHTLINIE 2002/58/EG DES EUROPÄISCHEN |
| 255 | PARLAMENTS UND DES RATES vom 12. Juli 2002 über die |
| 256 | Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der |
| 257 | Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation |
| 258 | (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation). |
| 259 | Dort heißt es in den Erwägungsgründen, dass die Verarbeitung |
| 260 | personenbezogener Daten auf das erforderliche Mindestmaß und |
| 261 | die Verwendung anonymer oder pseudonymer Daten beschränkt |
| 262 | werden soll. |
| 263 | |
| 264 | Diese grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers findet |
| 265 | auch bei der Nutzung von Angeboten zur politischen |
| 266 | Partizipation und Kommunikation Anwendung. [FN: Der |
| 267 | intendierten Zwecksetzung durch den Gesetzgeber würde eine |
| 268 | grundsätzliche Anwendbarkeit von Anonymisierungs- und |
| 269 | Pseudonymisierungsmöglichkeiten auch bei der Nutzung von |
| 270 | Angeboten zur politischen Partizipation und Kommunikation |
| 271 | entsprechen.] Neue Herausforderungen für die Gewährleistung |
| 272 | der Anonymität im Internet können sich unter Umständen durch |
| 273 | die flächendeckende Einführung des neuen Protokollstandards |
| 274 | IPv6 ergeben. [FN: Vgl. PG Zugang, Struktur und Sicherheit, |
| 275 | Kapitel 1.2.2] |
| 276 | |
| 277 | Anonyme bzw. pseudonyme Nutzung von sozialen Netzwerken |
| 278 | Der Streit um den Wert anonymer Kommunikation entzündet sich |
| 279 | nicht nur an derzeitigen – und zusätzlich geforderten – |
| 280 | staatlichen Kennzeichnungspflichten, sondern auch am Handeln |
| 281 | privater Plattformen und Kommunikationstools, die Anmeldung |
| 282 | nur mit Klarnamen zulassen (etwa Google+). [FN: Boyd, Danah |
| 283 | (2011): „Real Names“ Policies Are an Abuse of Power, 4. |
| 284 | August 2011. |
| 285 | http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-na |
| 286 | mes.html] |
| 287 | |
| 288 | Seitens der Anbieter wird die Verwendung von Pseudonymen |
| 289 | oder aber falschen Namen über die Allgemeinen |
| 290 | Geschäftsbedingungen ausgeschlossen bzw. als |
| 291 | vertragswidriges Verhalten definiert. Gegen diese Praxis |
| 292 | wird eingewendet, dass so eine Vielzahl von |
| 293 | personenbezogenen Daten entstehen würde, über die die Nutzer |
| 294 | schnell die Kontrolle verlieren könnten. Weiterhin wird |
| 295 | kritisiert, dass zahlreiche rechtliche Bestimmungen nicht |
| 296 | eingehalten würden. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass |
| 297 | auch Dritte Zugriff auf die personenbezogenen Daten nehmen |
| 298 | könnten und sie beispielsweise für Werbung oder aber die |
| 299 | Erstellung von Persönlichkeitsprofilen verwenden würden. |
| 300 | Zudem gibt es Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur |
| 301 | namentlichen Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich |
| 302 | Personen am Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert |
| 303 | sehen, weil sie negative Konsequenzen einer Äußerung in |
| 304 | beruflicher und persönlicher Hinsicht oder gezielte |
| 305 | Profilbildung anhand dieser politischen Meinungsbekundungen |
| 306 | fürchten. Es soll verhindert werden, dass in solchen |
| 307 | Situationen eine Form der Selbstzensur (sogenannter Chilling |
| 308 | effect) greift. |
| 309 | |
| 310 | Diese vorgenannten Fragen sind auch für die aktive |
| 311 | politische Kommunikation und Partizipation von Nutzern im |
| 312 | Internet von Bedeutung, da viele Abgeordnete der nationalen |
| 313 | Parlamente und des Europäischen Parlamentes eine |
| 314 | Kommunikation via sozialer Netzwerke unterstützen und |
| 315 | ermöglichen. Eine Zuordnung von politischen |
| 316 | Meinungsäußerungen im Rahmen der Erstellung von |
| 317 | Persönlichkeitsprofilen ist daher durchaus denkbar und |
| 318 | könnte für andere Teilnehmer des politischen Diskurses zudem |
| 319 | von besonderer Qualität sein. Als mögliche Interessenten |
| 320 | hierfür kommen u. a. Unternehmen aus den Bereichen Marketing |
| 321 | und Public Relations sowie einzelne Interessenvertreter und |
| 322 | –verbände. Auch einzelne Personen aus privatem oder |
| 323 | beruflichem Umfeld könnten sich dafür interessieren. |
| 324 | |
| 325 | Die Anbieter entsprechender Netzwerke berufen sich jedoch |
| 326 | grundsätzlich auf § 13 Abs. 6 des Telemediengesetzes, der |
| 327 | eine Pflicht zur Anonymisierung oder Pseudonymisierung dann |
| 328 | nicht vorschreiben würde, wenn diese nicht zumutbar sei. Da |
| 329 | soziale Netzwerke gerade auf personenbezogenen Daten beruhen |
| 330 | würden und ohne solche nicht funktionieren könnten, bestünde |
| 331 | keine Verpflichtung, einen anonymen oder aber pseudonymen |
| 332 | Zugriff für die Nutzer zu ermöglichen. Dieser Argumentation |
| 333 | steht die Position von Datenschützern und anderen entgegen, |
| 334 | die darauf verweisen, dass gerade in sozialen Netzwerken |
| 335 | eine pseudonymisierte Nutzung im Sinne des Grundrechts und |
| 336 | Datenschutzes möglich sein muss. Auch die anhaltenden |
| 337 | datenschutzrechtlichen Herausforderungen von sozialen |
| 338 | Netzwerken führen dazu, deren pseudonymisierte |
| 339 | Nutzungsmöglichkeit als Schutz zu diskutieren. Es gibt aber |
| 340 | auch soziale Netzwerke, die vornehmlich zur Darstellung der |
| 341 | beruflichen Qualifikation ihrer Mitglieder bestimmt sind. |
| 342 | Bei diesen ist die Verwendung von Klarnamen ursächlich für |
| 343 | das gesamte Geschäftsmodell an sich. Zudem käme es nicht zu |
| 344 | einer umfassenden Profilbildung bzw. eine Weitergabe von |
| 345 | Daten an Dritte fände nicht statt. Bei anderen |
| 346 | Geschäftsmodellen steht die Anonymität stärker im |
| 347 | Vordergrund. So bietet beispielsweise der |
| 348 | Microbloggingdienst Twitter auch eine anonyme Registrierung |
| 349 | der Nutzer an. |
| 350 | |
| 351 | Eine abschließende rechtliche Klärung der aufgeworfenen |
| 352 | Fragen durch nationale oder ggf. europäische Gerichte steht |
| 353 | noch aus (zur wissenschaftlichen Aufarbeitung Heilmann |
| 354 | 2012). |
| 355 | Neue Herausforderungen für die Gewährleistung der Anonymität |
| 356 | können sich unter Umständen zudem durch die Einführung des |
| 357 | neuen Web-Standards IPv6 ergeben, der die Zahl der |
| 358 | verfügbaren, eindeutig identifizierbaren IP-Adressen |
| 359 | deutlich erhöhen wird. Aus diesem Grund wird es künftig |
| 360 | nicht mehr unbedingt notwendig sein, die Teilnehmer am |
| 361 | Internet mit dynamischen Adressen auszustatten. Vielmehr |
| 362 | werden statische Adressen vergeben werden können, mit der |
| 363 | Folge, dass die Identifikation einzelner Teilnehmer |
| 364 | erleichtert wird (dazu Hoeren, Anonymität im Web – |
| 365 | Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, ZRP 2010, 251, 252 |
| 366 | ff.). Hier berührt sich die Debatte mit der über |
| 367 | informationelle Selbstbestimmung im Netz. |
Der Text verglichen mit der Originalversion
| 1 | Im Rahmen der politischen Teilhabe und Partizipation stellt |
| 2 | sich seit jeher auch die Frage, inwiefern diese |
| 3 | personalisiert oder aber anonym erfolgen kann. Kommunikation |
| 4 | im Internet beinhaltet eine neue Qualität, denn das Internet |
| 5 | wird als ein wichtiges Medium für anonyme Kommunikation |
| 6 | angesehen. Es ermöglicht einen politischen Meinungsaustausch |
| 7 | ohne unmittelbaren persönlichen Bezug und ohne direkte |
| 8 | Identifikation des Gesprächspartners. Erfolgt Kommunikation |
| 9 | anonym, ist also bei der Äußerung nicht klar, wer |
| 10 | kommuniziert, so verändert dies generell die |
| 11 | Gesprächssituation mit Folgen für die Interessen des |
| 12 | Kommunizierenden und Dritter. So entfallen zunächst |
| 13 | Informationen über den Äußernden, was die Überzeugungskraft |
| 14 | der Aussage bei Zuhörern reduzieren kann. Darüber hinaus hat |
| 15 | die anonyme Äußerung Folgen für Dritte, die von der Aussage |
| 16 | betroffen sind. Ihnen fehlen Informationen zur Einschätzung |
| 17 | des Sprechers; die Identifizierbarkeit ist erschwert, was |
| 18 | die Rechtsverfolgung beeinträchtigen kann, etwa wenn |
| 19 | Persönlichkeitsrechte durch die Aussage betroffen sind. |
| 20 | Letzteres gilt auch für die Durchsetzung öffentlicher |
| 21 | Interessen, etwa der Strafverfolgung, oder aber auch im |
| 22 | Bereich des Jugendschutzes. Dass der Sprecher sich nicht zu |
| 23 | erkennen gibt, bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich |
| 24 | und rechtlich eine Identifikation unmöglich ist. |
| 25 | |
| 26 | Mit der fehlenden Rückführbarkeit auf eine Person wird auch |
| 27 | die soziale Kontrolle weniger wirksam; so wird beobachtet, |
| 28 | dass bei anonymer Kommunikation die Sprecher enthemmt sein |
| 29 | können bzw. sich nicht an soziale Konventionen halten. Die |
| 30 | Verringerung sozialer Kontrolle ist, anders herum, |
| 31 | beispielsweise in Abhängigkeitsbeziehungen etwa bei |
| 32 | Arbeitnehmern oder Auszubildenden mit der Möglichkeit |
| 33 | verbunden, sich ohne Furcht vor Sanktionen äußern zu können. |
| 34 | Insofern können der öffentlichen Kommunikation Äußerungen |
| 35 | verloren gehen, die – wenn keine anonyme Kommunikation |
| 36 | möglich ist – aus Furcht vor solchen Reaktionen |
| 37 | unterbleiben. Die anonyme oder pseudonyme Nutzung ermöglicht |
| 38 | es den Bürgerinnen und Bürgern also, im Einzelfall und nach |
| 39 | ihrem eigenen Dafürhalten eine Meinung frei artikulieren zu |
| 40 | können, ohne Ächtung und Nachteile befürchten zu müssen. |
| 41 | Dies ist essentiell für die freie Meinungsbildung in einer |
| 42 | Demokratie. Es entspricht zudem auch der Begegnung im |
| 43 | öffentlichen Raum, wo sich Menschen zunächst ohne |
| 44 | Namensnennung begegnen und einander dann vorstellen, wenn |
| 45 | sie selbst es für geboten halten. |
| 46 | |
| 47 | Welche der vorgenannten Wirkungen des anonymen |
| 48 | Kommunizierens für rechtliche Einordnungen relevant sind, |
| 49 | hängt daher stark vom Kontext der Äußerungen ab. [FN: Vgl. |
| 50 | zu den vorgenannten Kriterien und ihrer rechtlichen |
| 51 | Einordnung Heilmann, Stefan (2012): Informationspflichten im |
| 52 | Telemedienrecht und User-generated Content, Hamburg (in |
| 53 | Vorbereitung).] |
| 54 | |
| 55 | Politische Auseinandersetzungen in Demokratien werden in |
| 56 | unterschiedlichen Medien und Ebenen geführt. Hierbei können |
| 57 | auch wiederkehrende Abläufe und Verhaltensweisen |
| 58 | festgestellt werden. So wird beispielsweise gefordert, dass |
| 59 | die politische Auseinandersetzung im Regelfall mit „offenem |
| 60 | Visier“ stattfinden sollte. Schließlich sei eine |
| 61 | Personalisierung von politischen Äußerungen in Deutschland |
| 62 | auch nicht mit vergleichbaren negativen Folgen verbunden, |
| 63 | wie dies in autoritären Regimen ohne einen die Grundrechte |
| 64 | garantierenden Rechtsstaat der Fall ist. Für die Staaten des |
| 65 | Arabischen Frühlings war die Möglichkeit einer anonymen |
| 66 | Kommunikation ein wichtiger Faktor, der das Aufbäumen für |
| 67 | mehr Demokratie gefördert hat. Denn die Möglichkeit zur |
| 68 | freien Meinungsäußerung, unbeobachteten Kommunikation oder |
| 69 | aber unabhängige Medien waren in diesen Staaten größtenteils |
| 70 | nicht vorhanden bzw. wurden eingeschränkt. Das Internet und |
| 71 | auch die Sozialen Netzwerke haben daher einen wichtigen |
| 72 | Beitrag für die Freiheitsbewegungen in diesen Ländern |
| 73 | geleistet. Besonders in anderen Staaten, in denen Menschen |
| 74 | noch immer nicht frei ihre politische Überzeugung und |
| 75 | Meinung äußern können, spielt die durch das Internet |
| 76 | gewährleistete Anonymität eine grundlegende Rolle bei der |
| 77 | politischen Diskussion. |
| 78 | |
| 79 | Gleichwohl können sich Nachteile ergeben, etwa durch den |
| 80 | Bezug zu einem Arbeitgeber. Darüber hinaus wird angeführt, |
| 81 | dass politische Auseinandersetzungen gerade von einer |
| 82 | namentlichen Zuordnung zu einzelnen Aussagen profitieren |
| 83 | können. Eine persönliche Verantwortung für den Inhalt könne |
| 84 | ihnen eine höhere Bedeutung verleihen und sie können somit |
| 85 | auch an Einfluss gewinnen. Nichtsdestotrotz obliegt es in |
| 86 | einer freiheitlichen Gesellschaft letztlich dem |
| 87 | Kommunikationsteilnehmer selbst, wie er sich und seine |
| 88 | politische Auffassung präsentieren möchte. Schließlich trägt |
| 89 | er hierfür auch die Verantwortung. |
| 90 | |
| 91 | |
| 92 | |
| 93 | Die nachfolgenden Kapitel sind durch die Fraktionen CDU/CSU |
| 94 | und FDP streitig gestellt. Es liegt ein Alternativtext vor |
| 95 | (s. A-Drs. 17 (24) 053 A, |
| 96 | http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun |
| 97 | gen/20120625/A-Drs_17_24_053_A_-_PG_Demokratie_und_Staat_Alt |
| 98 | ernativtext_CDU_CSU_und_FDP_Kap__1_4_2_5_1__1_4_2_5_2.pdf ) |
| 99 | |
| 100 | |
| 101 | Anonymität im Internet |
| 102 | Den normativen Rahmen bildet der verfassungsrechtliche |
| 103 | Schutz der Kommunikation in seiner derzeitigen Gestalt. Der |
| 104 | Rahmen ist komplex und in den Strukturen umstritten, er kann |
| 105 | hier nur skizziert werden. Anknüpfend an verschiedene |
| 106 | mögliche Formen des anonymen Handelns wäre zunächst das |
| 107 | anonyme bloße Surfen zu thematisieren. Für dessen Schutz |
| 108 | erscheint eine Herleitung aus dem Allgemeinen |
| 109 | Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 |
| 110 | GG, möglich. [FN: so etwa Denninger, Erhard, Anonymität – |
| 111 | Erscheinungsformen und verfassungsrechtliche Fundierung, in: |
| 112 | Bäumler, Helmut/von Mutius, Albert (Hrsg.) (2003): |
| 113 | Anonymität im Internet – Grundlagen, Methoden und Tools zur |
| 114 | Realisierung eines Grundrechts, Braunschweig, S. 41 ff.] |
| 115 | Ebenso wird auf das Recht auf informationelle |
| 116 | Selbstbestimmung zurückgegriffen. [Vgl. Bäumler, Das Recht |
| 117 | auf Anonymität, a.a.O., S. 1 ff.] Schwieriger ist die |
| 118 | Einordnung aktiver kommunikativer Nutzung. |
| 119 | |
| 120 | Wenn es um die aktive anonyme Kommunikation geht, geraten |
| 121 | auch die Kommunikationsfreiheiten ins Blickfeld. Hier ist |
| 122 | Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die Meinungsfreiheit, betroffen, auch |
| 123 | anonym Geäußertes ist grundsätzlich geschützt. Dies hat die |
| 124 | Rechtsprechung jüngst auch für Internet-basierte |
| 125 | Kommunikation herausgearbeitet, sehr deutlich vor allem im |
| 126 | Rahmen der „Spickmich-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs |
| 127 | (BGHZ 181, 328 = NJW 2009, 2888 = MMR 2009, 608 |
| 128 | „Spickmich“). Darin ging es um die Zulässigkeit |
| 129 | personenbezogener Bewertungsportale (in diesem Falle von |
| 130 | Lehrern) im Internet. Zum Wert der anonymen Kommunikation |
| 131 | führte der BGH aus: |
| 132 | |
| 133 | „[38] Die Datenerhebung ist auch nicht deshalb unzulässig, |
| 134 | weil sie wegen der begrenzten Anzahl der anonymen |
| 135 | Bewertungen ungeeignet wäre, das Interesse der Nutzer zu |
| 136 | befriedigen. Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent |
| 137 | (vgl. Senat VersR 2007, 1004, 1005 [= MMR 2007, 518]). |
| 138 | Dementsprechende Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten ggü. |
| 139 | dem Diensteanbieter finden sich in den §§12 ff. TMG, den |
| 140 | Nachfolgeregelungen zu §4 Abs. 4 Nr.10 TDG. Eine |
| 141 | Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, |
| 142 | die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können, |
| 143 | ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die |
| 144 | Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung |
| 145 | zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich, um den |
| 146 | es im Streitfall geht, die Gefahr begründen, dass der |
| 147 | Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen |
| 148 | negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine |
| 149 | Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll |
| 150 | durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung |
| 151 | entgegengewirkt werden (vgl. Ballhausen/Roggenkamp, K&R |
| 152 | 2008, 403, 406).“ |
| 153 | |
| 154 | Diese Wertung steht im Einklang mit früheren Entscheidungen |
| 155 | des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. Demnach |
| 156 | verleiht die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit als |
| 157 | „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in |
| 158 | der Gesellschaft“ [BVerfGE 7, 198, 208; siehe auch BVerfGE |
| 159 | 85, 23, 31.] dem Einzelnen das Recht, autonom darüber zu |
| 160 | entscheiden, ob er seine Identität in der Kommunikation zu |
| 161 | erkennen gibt. |
| 162 | |
| 163 | Dass anonym Geäußertes vollen grundrechtlichen Schutz |
| 164 | genießt, bedeutet nicht, dass der Staat das anonyme |
| 165 | Kommunizieren nicht ganz oder teilweise unterbinden, also |
| 166 | etwa Kennzeichnungspflichten als grundrechtseinschränkende |
| 167 | Maßnahmen vorsehen darf. Dazu existieren bereits Regelungen |
| 168 | zu den „allgemeinen Informationspflichten“ in Form des § 5 |
| 169 | Abs. 1 TMG und § 55 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag, wobei |
| 170 | letzterer Kommunikation ausschließlich zu privaten Zwecken |
| 171 | von Kennzeichnungspflichten befreit, also anonym zulässt. |
| 172 | Die Regelungen arbeiten mit zahlreichen unbestimmten |
| 173 | Begriffen („persönliche oder familiäre Zwecke“, „in der |
| 174 | Regel entgeltlich“, „geschäftsmäßig“), was die Anwendung |
| 175 | erschwert, zumal auch der Adressat der Regelung nicht immer |
| 176 | eindeutig zu bestimmen ist (der Plattformanbieter, der Autor |
| 177 | eines Blogbeitrages oder gar eines einzelnen |
| 178 | Twitter-Feeds?). |
| 179 | |
| 180 | Kennzeichnungspflichten reagieren auf Risiken anonymer |
| 181 | Kommunikation, etwa Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung (im |
| 182 | Hinblick auf kommerzielle oder auch etwa |
| 183 | persönlichkeitsrechtliche Interessen), aber auch |
| 184 | Manipulationsrisiken. [FN: vgl. etwa Gomille, Christian: |
| 185 | Prangerwirkung und Manipulationsgefahr bei Bewertungsforen |
| 186 | im Internet, ZUM 2009, 815, 821 f.] Als ein mögliches |
| 187 | Szenario sei etwa die Vortäuschung von Meinungsmacht über |
| 188 | die Verwendung mehrerer Identitäten auf Bewertungsportalen |
| 189 | genannt (sock-puppeting). |
| 190 | |
| 191 | Kennzeichnungspflichten greifen ihrerseits in Grundrechte |
| 192 | ein, je nach Angebot in Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit) |
| 193 | oder Abs. 2 GG (Medienfreiheiten), auch Eingriffe in andere |
| 194 | Grundrechte sind je nach Kontext und Folgen möglich. |
| 195 | |
| 196 | Über eine „kommunikationstheoretische Deutung des |
| 197 | allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ kommt Bizer [FN: Bizer |
| 198 | Johann, Das Recht auf Anonymität in der Zange gesetzlicher |
| 199 | Identifizierungspflichten, in: Bäumler, Helmut/von Mutius, |
| 200 | Albert (Hrsg.) (2003): Anonymität im Internet – Grundlagen, |
| 201 | Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts, |
| 202 | Braunschweig, S. 78 ff.] darüber hinaus explizit zu einem |
| 203 | Recht auf Anonymität. Hintergrund solcher Ansätze zur |
| 204 | Begründung eines Rechts auf anonyme Kommunikation sind |
| 205 | Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur namentlichen |
| 206 | Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich Personen am |
| 207 | Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert sehen, weil |
| 208 | sie die Konsequenzen einer Äußerung fürchteten. Es soll |
| 209 | verhindert werden, dass in solchen Situationen eine Form der |
| 210 | Selbstzensur greift (siehe auch BGH, a.a.O.). Es liegt nahe, |
| 211 | dass dort, wo eine Pflicht zum Klarnamen besonders |
| 212 | weitreichende Folgen hat – also etwa der öffentlichen |
| 213 | Kommunikation, bei der strukturell Inhalte verloren gehen – |
| 214 | die Beeinträchtigung der Kommunikationsfreiheit besonders |
| 215 | groß ist. Ob das derzeitige rechtliche Konzept der |
| 216 | Kennzeichnungspflichten den verfassungsrechtlichen |
| 217 | Anforderungen genügt, ist bislang weder wissenschaftlich |
| 218 | noch in der Rechtsprechung abschließend geklärt. |
| 219 | |
| 220 | Zudem verweist der BGH auf einfachgesetzlicher Ebene darauf, |
| 221 | dass die §§ 12 ff. TMG den Nutzern grundsätzlich ein Recht |
| 222 | zur anonymen Nutzung des Internets einräumen (müssen), |
| 223 | insbesondere aus § 13 Abs. 6 TMG [FN: Roggenkamp Jan, |
| 224 | Kommentar zu: BGH, Urteil vom 23.06.2009 - VI ZR 196/08, |
| 225 | Kommunikation und Recht (K&R), 2009, 571, 572.]; siehe dazu |
| 226 | Rz. [42] des Urteils. |
| 227 | |
| 228 | Das deutsche Recht sieht – sowohl im Telemediengesetz als |
| 229 | auch im Rundfunkstaatsvertrag – die Ermöglichung einer |
| 230 | anonymen und pseudonymen Nutzung vor, soweit dies technisch |
| 231 | möglich und zumutbar ist. Darüber hinaus muss der Nutzer |
| 232 | über diese Möglichkeit informiert werden. Damit soll von |
| 233 | vornherein die Entstehung personenbezogener Daten verhindert |
| 234 | werden und somit dem Recht auf informationelle |
| 235 | Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 |
| 236 | GG Rechnung getragen werden. Ziel der Regelung war es, der |
| 237 | im digitalen Kontext allgegenwärtigen Identifizierbarkeit |
| 238 | durch die Zuordnung eindeutiger digitaler Kennungen |
| 239 | entgegenzutreten. Die Begriffe „anonymisieren“ und |
| 240 | „pseudonymisieren“ werden im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) |
| 241 | in § 3 „Weitere Begriffsbestimmungen“ definiert. Unter dem |
| 242 | Begriff anonymisieren wird die Veränderung personenbezogener |
| 243 | Daten derart verstanden, „dass die Einzelangaben über |
| 244 | persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur |
| 245 | mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten |
| 246 | und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren |
| 247 | natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Mit dem |
| 248 | Begriff „pseudonymisieren“ ist „das Ersetzen des Namens und |
| 249 | anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“ |
| 250 | gemeint, „zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen |
| 251 | auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“ |
| 252 | |
| 253 | Die Ermöglichung einer anonymen und pseudonymen Nutzung |
| 254 | basiert auf der RICHTLINIE 2002/58/EG DES EUROPÄISCHEN |
| 255 | PARLAMENTS UND DES RATES vom 12. Juli 2002 über die |
| 256 | Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der |
| 257 | Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation |
| 258 | (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation). |
| 259 | Dort heißt es in den Erwägungsgründen, dass die Verarbeitung |
| 260 | personenbezogener Daten auf das erforderliche Mindestmaß und |
| 261 | die Verwendung anonymer oder pseudonymer Daten beschränkt |
| 262 | werden soll. |
| 263 | |
| 264 | Diese grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers findet |
| 265 | auch bei der Nutzung von Angeboten zur politischen |
| 266 | Partizipation und Kommunikation Anwendung. [FN: Der |
| 267 | intendierten Zwecksetzung durch den Gesetzgeber würde eine |
| 268 | grundsätzliche Anwendbarkeit von Anonymisierungs- und |
| 269 | Pseudonymisierungsmöglichkeiten auch bei der Nutzung von |
| 270 | Angeboten zur politischen Partizipation und Kommunikation |
| 271 | entsprechen.] Neue Herausforderungen für die Gewährleistung |
| 272 | der Anonymität im Internet können sich unter Umständen durch |
| 273 | die flächendeckende Einführung des neuen Protokollstandards |
| 274 | IPv6 ergeben. [FN: Vgl. PG Zugang, Struktur und Sicherheit, |
| 275 | Kapitel 1.2.2] |
| 276 | |
| 277 | Anonyme bzw. pseudonyme Nutzung von sozialen Netzwerken |
| 278 | Der Streit um den Wert anonymer Kommunikation entzündet sich |
| 279 | nicht nur an derzeitigen – und zusätzlich geforderten – |
| 280 | staatlichen Kennzeichnungspflichten, sondern auch am Handeln |
| 281 | privater Plattformen und Kommunikationstools, die Anmeldung |
| 282 | nur mit Klarnamen zulassen (etwa Google+). [FN: Boyd, Danah |
| 283 | (2011): „Real Names“ Policies Are an Abuse of Power, 4. |
| 284 | August 2011. |
| 285 | http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-na |
| 286 | mes.html] |
| 287 | |
| 288 | Seitens der Anbieter wird die Verwendung von Pseudonymen |
| 289 | oder aber falschen Namen über die Allgemeinen |
| 290 | Geschäftsbedingungen ausgeschlossen bzw. als |
| 291 | vertragswidriges Verhalten definiert. Gegen diese Praxis |
| 292 | wird eingewendet, dass so eine Vielzahl von |
| 293 | personenbezogenen Daten entstehen würde, über die die Nutzer |
| 294 | schnell die Kontrolle verlieren könnten. Weiterhin wird |
| 295 | kritisiert, dass zahlreiche rechtliche Bestimmungen nicht |
| 296 | eingehalten würden. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass |
| 297 | auch Dritte Zugriff auf die personenbezogenen Daten nehmen |
| 298 | könnten und sie beispielsweise für Werbung oder aber die |
| 299 | Erstellung von Persönlichkeitsprofilen verwenden würden. |
| 300 | Zudem gibt es Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur |
| 301 | namentlichen Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich |
| 302 | Personen am Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert |
| 303 | sehen, weil sie negative Konsequenzen einer Äußerung in |
| 304 | beruflicher und persönlicher Hinsicht oder gezielte |
| 305 | Profilbildung anhand dieser politischen Meinungsbekundungen |
| 306 | fürchten. Es soll verhindert werden, dass in solchen |
| 307 | Situationen eine Form der Selbstzensur (sogenannter Chilling |
| 308 | effect) greift. |
| 309 | |
| 310 | Diese vorgenannten Fragen sind auch für die aktive |
| 311 | politische Kommunikation und Partizipation von Nutzern im |
| 312 | Internet von Bedeutung, da viele Abgeordnete der nationalen |
| 313 | Parlamente und des Europäischen Parlamentes eine |
| 314 | Kommunikation via sozialer Netzwerke unterstützen und |
| 315 | ermöglichen. Eine Zuordnung von politischen |
| 316 | Meinungsäußerungen im Rahmen der Erstellung von |
| 317 | Persönlichkeitsprofilen ist daher durchaus denkbar und |
| 318 | könnte für andere Teilnehmer des politischen Diskurses zudem |
| 319 | von besonderer Qualität sein. Als mögliche Interessenten |
| 320 | hierfür kommen u. a. Unternehmen aus den Bereichen Marketing |
| 321 | und Public Relations sowie einzelne Interessenvertreter und |
| 322 | –verbände. Auch einzelne Personen aus privatem oder |
| 323 | beruflichem Umfeld könnten sich dafür interessieren. |
| 324 | |
| 325 | Die Anbieter entsprechender Netzwerke berufen sich jedoch |
| 326 | grundsätzlich auf § 13 Abs. 6 des Telemediengesetzes, der |
| 327 | eine Pflicht zur Anonymisierung oder Pseudonymisierung dann |
| 328 | nicht vorschreiben würde, wenn diese nicht zumutbar sei. Da |
| 329 | soziale Netzwerke gerade auf personenbezogenen Daten beruhen |
| 330 | würden und ohne solche nicht funktionieren könnten, bestünde |
| 331 | keine Verpflichtung, einen anonymen oder aber pseudonymen |
| 332 | Zugriff für die Nutzer zu ermöglichen. Dieser Argumentation |
| 333 | steht die Position von Datenschützern und anderen entgegen, |
| 334 | die darauf verweisen, dass gerade in sozialen Netzwerken |
| 335 | eine pseudonymisierte Nutzung im Sinne des Grundrechts und |
| 336 | Datenschutzes möglich sein muss. Auch die anhaltenden |
| 337 | datenschutzrechtlichen Herausforderungen von sozialen |
| 338 | Netzwerken führen dazu, deren pseudonymisierte |
| 339 | Nutzungsmöglichkeit als Schutz zu diskutieren. Es gibt aber |
| 340 | auch soziale Netzwerke, die vornehmlich zur Darstellung der |
| 341 | beruflichen Qualifikation ihrer Mitglieder bestimmt sind. |
| 342 | Bei diesen ist die Verwendung von Klarnamen ursächlich für |
| 343 | das gesamte Geschäftsmodell an sich. Zudem käme es nicht zu |
| 344 | einer umfassenden Profilbildung bzw. eine Weitergabe von |
| 345 | Daten an Dritte fände nicht statt. Bei anderen |
| 346 | Geschäftsmodellen steht die Anonymität stärker im |
| 347 | Vordergrund. So bietet beispielsweise der |
| 348 | Microbloggingdienst Twitter auch eine anonyme Registrierung |
| 349 | der Nutzer an. |
| 350 | |
| 351 | Eine abschließende rechtliche Klärung der aufgeworfenen |
| 352 | Fragen durch nationale oder ggf. europäische Gerichte steht |
| 353 | noch aus (zur wissenschaftlichen Aufarbeitung Heilmann |
| 354 | 2012). |
| 355 | Neue Herausforderungen für die Gewährleistung der Anonymität |
| 356 | können sich unter Umständen zudem durch die Einführung des |
| 357 | neuen Web-Standards IPv6 ergeben, der die Zahl der |
| 358 | verfügbaren, eindeutig identifizierbaren IP-Adressen |
| 359 | deutlich erhöhen wird. Aus diesem Grund wird es künftig |
| 360 | nicht mehr unbedingt notwendig sein, die Teilnehmer am |
| 361 | Internet mit dynamischen Adressen auszustatten. Vielmehr |
| 362 | werden statische Adressen vergeben werden können, mit der |
| 363 | Folge, dass die Identifikation einzelner Teilnehmer |
| 364 | erleichtert wird (dazu Hoeren, Anonymität im Web – |
| 365 | Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, ZRP 2010, 251, 252 |
| 366 | ff.). Hier berührt sich die Debatte mit der über |
| 367 | informationelle Selbstbestimmung im Netz. |
-
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