Papier: 01.04.06 Partizipation und Anonymität

Originalversion

1 Im Rahmen der politischen Teilhabe und Partizipation stellt
2 sich seit jeher auch die Frage, inwiefern diese
3 personalisiert oder aber anonym erfolgen kann. Kommunikation
4 im Internet beinhaltet eine neue Qualität, denn das Internet
5 wird als ein wichtiges Medium für anonyme Kommunikation
6 angesehen. Es ermöglicht einen politischen Meinungsaustausch
7 ohne unmittelbaren persönlichen Bezug und ohne direkte
8 Identifikation des Gesprächspartners. Erfolgt Kommunikation
9 anonym, ist also bei der Äußerung nicht klar, wer
10 kommuniziert, so verändert dies generell die
11 Gesprächssituation mit Folgen für die Interessen des
12 Kommunizierenden und Dritter. So entfallen zunächst
13 Informationen über den Äußernden, was die Überzeugungskraft
14 der Aussage bei Zuhörern reduzieren kann. Darüber hinaus hat
15 die anonyme Äußerung Folgen für Dritte, die von der Aussage
16 betroffen sind. Ihnen fehlen Informationen zur Einschätzung
17 des Sprechers; die Identifizierbarkeit ist erschwert, was
18 die Rechtsverfolgung beeinträchtigen kann, etwa wenn
19 Persönlichkeitsrechte durch die Aussage betroffen sind.
20 Letzteres gilt auch für die Durchsetzung öffentlicher
21 Interessen, etwa der Strafverfolgung, oder aber auch im
22 Bereich des Jugendschutzes. Dass der Sprecher sich nicht zu
23 erkennen gibt, bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich
24 und rechtlich eine Identifikation unmöglich ist.
25
26 Mit der fehlenden Rückführbarkeit auf eine Person wird auch
27 die soziale Kontrolle weniger wirksam; so wird beobachtet,
28 dass bei anonymer Kommunikation die Sprecher enthemmt sein
29 können bzw. sich nicht an soziale Konventionen halten. Die
30 Verringerung sozialer Kontrolle ist, anders herum,
31 beispielsweise in Abhängigkeitsbeziehungen etwa bei
32 Arbeitnehmern oder Auszubildenden mit der Möglichkeit
33 verbunden, sich ohne Furcht vor Sanktionen äußern zu können.
34 Insofern können der öffentlichen Kommunikation Äußerungen
35 verloren gehen, die – wenn keine anonyme Kommunikation
36 möglich ist – aus Furcht vor solchen Reaktionen
37 unterbleiben. Die anonyme oder pseudonyme Nutzung ermöglicht
38 es den Bürgerinnen und Bürgern also, im Einzelfall und nach
39 ihrem eigenen Dafürhalten eine Meinung frei artikulieren zu
40 können, ohne Ächtung und Nachteile befürchten zu müssen.
41 Dies ist essentiell für die freie Meinungsbildung in einer
42 Demokratie. Es entspricht zudem auch der Begegnung im
43 öffentlichen Raum, wo sich Menschen zunächst ohne
44 Namensnennung begegnen und einander dann vorstellen, wenn
45 sie selbst es für geboten halten.
46
47 Welche der vorgenannten Wirkungen des anonymen
48 Kommunizierens für rechtliche Einordnungen relevant sind,
49 hängt daher stark vom Kontext der Äußerungen ab. [FN: Vgl.
50 zu den vorgenannten Kriterien und ihrer rechtlichen
51 Einordnung Heilmann, Stefan (2012): Informationspflichten im
52 Telemedienrecht und User-generated Content, Hamburg (in
53 Vorbereitung).]
54
55 Politische Auseinandersetzungen in Demokratien werden in
56 unterschiedlichen Medien und Ebenen geführt. Hierbei können
57 auch wiederkehrende Abläufe und Verhaltensweisen
58 festgestellt werden. So wird beispielsweise gefordert, dass
59 die politische Auseinandersetzung im Regelfall mit „offenem
60 Visier“ stattfinden sollte. Schließlich sei eine
61 Personalisierung von politischen Äußerungen in Deutschland
62 auch nicht mit vergleichbaren negativen Folgen verbunden,
63 wie dies in autoritären Regimen ohne einen die Grundrechte
64 garantierenden Rechtsstaat der Fall ist. Für die Staaten des
65 Arabischen Frühlings war die Möglichkeit einer anonymen
66 Kommunikation ein wichtiger Faktor, der das Aufbäumen für
67 mehr Demokratie gefördert hat. Denn die Möglichkeit zur
68 freien Meinungsäußerung, unbeobachteten Kommunikation oder
69 aber unabhängige Medien waren in diesen Staaten größtenteils
70 nicht vorhanden bzw. wurden eingeschränkt. Das Internet und
71 auch die Sozialen Netzwerke haben daher einen wichtigen
72 Beitrag für die Freiheitsbewegungen in diesen Ländern
73 geleistet. Besonders in anderen Staaten, in denen Menschen
74 noch immer nicht frei ihre politische Überzeugung und
75 Meinung äußern können, spielt die durch das Internet
76 gewährleistete Anonymität eine grundlegende Rolle bei der
77 politischen Diskussion.
78
79 Gleichwohl können sich Nachteile ergeben, etwa durch den
80 Bezug zu einem Arbeitgeber. Darüber hinaus wird angeführt,
81 dass politische Auseinandersetzungen gerade von einer
82 namentlichen Zuordnung zu einzelnen Aussagen profitieren
83 können. Eine persönliche Verantwortung für den Inhalt könne
84 ihnen eine höhere Bedeutung verleihen und sie können somit
85 auch an Einfluss gewinnen. Nichtsdestotrotz obliegt es in
86 einer freiheitlichen Gesellschaft letztlich dem
87 Kommunikationsteilnehmer selbst, wie er sich und seine
88 politische Auffassung präsentieren möchte. Schließlich trägt
89 er hierfür auch die Verantwortung.
90
91
92
93 Die nachfolgenden Kapitel sind durch die Fraktionen CDU/CSU
94 und FDP streitig gestellt. Es liegt ein Alternativtext vor
95 (s. A-Drs. 17 (24) 053 A,
96 http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun
97 gen/20120625/A-Drs_17_24_053_A_-_PG_Demokratie_und_Staat_Alt
98 ernativtext_CDU_CSU_und_FDP_Kap__1_4_2_5_1__1_4_2_5_2.pdf )
99
100
101 Anonymität im Internet
102 Den normativen Rahmen bildet der verfassungsrechtliche
103 Schutz der Kommunikation in seiner derzeitigen Gestalt. Der
104 Rahmen ist komplex und in den Strukturen umstritten, er kann
105 hier nur skizziert werden. Anknüpfend an verschiedene
106 mögliche Formen des anonymen Handelns wäre zunächst das
107 anonyme bloße Surfen zu thematisieren. Für dessen Schutz
108 erscheint eine Herleitung aus dem Allgemeinen
109 Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1
110 GG, möglich. [FN: so etwa Denninger, Erhard, Anonymität –
111 Erscheinungsformen und verfassungsrechtliche Fundierung, in:
112 Bäumler, Helmut/von Mutius, Albert (Hrsg.) (2003):
113 Anonymität im Internet – Grundlagen, Methoden und Tools zur
114 Realisierung eines Grundrechts, Braunschweig, S. 41 ff.]
115 Ebenso wird auf das Recht auf informationelle
116 Selbstbestimmung zurückgegriffen. [Vgl. Bäumler, Das Recht
117 auf Anonymität, a.a.O., S. 1 ff.] Schwieriger ist die
118 Einordnung aktiver kommunikativer Nutzung.
119
120 Wenn es um die aktive anonyme Kommunikation geht, geraten
121 auch die Kommunikationsfreiheiten ins Blickfeld. Hier ist
122 Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die Meinungsfreiheit, betroffen, auch
123 anonym Geäußertes ist grundsätzlich geschützt. Dies hat die
124 Rechtsprechung jüngst auch für Internet-basierte
125 Kommunikation herausgearbeitet, sehr deutlich vor allem im
126 Rahmen der „Spickmich-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs
127 (BGHZ 181, 328 = NJW 2009, 2888 = MMR 2009, 608
128 „Spickmich“). Darin ging es um die Zulässigkeit
129 personenbezogener Bewertungsportale (in diesem Falle von
130 Lehrern) im Internet. Zum Wert der anonymen Kommunikation
131 führte der BGH aus:
132
133 „[38] Die Datenerhebung ist auch nicht deshalb unzulässig,
134 weil sie wegen der begrenzten Anzahl der anonymen
135 Bewertungen ungeeignet wäre, das Interesse der Nutzer zu
136 befriedigen. Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent
137 (vgl. Senat VersR 2007, 1004, 1005 [= MMR 2007, 518]).
138 Dementsprechende Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten ggü.
139 dem Diensteanbieter finden sich in den §§12 ff. TMG, den
140 Nachfolgeregelungen zu §4 Abs. 4 Nr.10 TDG. Eine
141 Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen,
142 die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können,
143 ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die
144 Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung
145 zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich, um den
146 es im Streitfall geht, die Gefahr begründen, dass der
147 Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen
148 negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine
149 Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll
150 durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung
151 entgegengewirkt werden (vgl. Ballhausen/Roggenkamp, K&R
152 2008, 403, 406).“
153
154 Diese Wertung steht im Einklang mit früheren Entscheidungen
155 des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. Demnach
156 verleiht die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit als
157 „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in
158 der Gesellschaft“ [BVerfGE 7, 198, 208; siehe auch BVerfGE
159 85, 23, 31.] dem Einzelnen das Recht, autonom darüber zu
160 entscheiden, ob er seine Identität in der Kommunikation zu
161 erkennen gibt.
162
163 Dass anonym Geäußertes vollen grundrechtlichen Schutz
164 genießt, bedeutet nicht, dass der Staat das anonyme
165 Kommunizieren nicht ganz oder teilweise unterbinden, also
166 etwa Kennzeichnungspflichten als grundrechtseinschränkende
167 Maßnahmen vorsehen darf. Dazu existieren bereits Regelungen
168 zu den „allgemeinen Informationspflichten“ in Form des § 5
169 Abs. 1 TMG und § 55 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag, wobei
170 letzterer Kommunikation ausschließlich zu privaten Zwecken
171 von Kennzeichnungspflichten befreit, also anonym zulässt.
172 Die Regelungen arbeiten mit zahlreichen unbestimmten
173 Begriffen („persönliche oder familiäre Zwecke“, „in der
174 Regel entgeltlich“, „geschäftsmäßig“), was die Anwendung
175 erschwert, zumal auch der Adressat der Regelung nicht immer
176 eindeutig zu bestimmen ist (der Plattformanbieter, der Autor
177 eines Blogbeitrages oder gar eines einzelnen
178 Twitter-Feeds?).
179
180 Kennzeichnungspflichten reagieren auf Risiken anonymer
181 Kommunikation, etwa Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung (im
182 Hinblick auf kommerzielle oder auch etwa
183 persönlichkeitsrechtliche Interessen), aber auch
184 Manipulationsrisiken. [FN: vgl. etwa Gomille, Christian:
185 Prangerwirkung und Manipulationsgefahr bei Bewertungsforen
186 im Internet, ZUM 2009, 815, 821 f.] Als ein mögliches
187 Szenario sei etwa die Vortäuschung von Meinungsmacht über
188 die Verwendung mehrerer Identitäten auf Bewertungsportalen
189 genannt (sock-puppeting).
190
191 Kennzeichnungspflichten greifen ihrerseits in Grundrechte
192 ein, je nach Angebot in Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit)
193 oder Abs. 2 GG (Medienfreiheiten), auch Eingriffe in andere
194 Grundrechte sind je nach Kontext und Folgen möglich.
195
196 Über eine „kommunikationstheoretische Deutung des
197 allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ kommt Bizer [FN: Bizer
198 Johann, Das Recht auf Anonymität in der Zange gesetzlicher
199 Identifizierungspflichten, in: Bäumler, Helmut/von Mutius,
200 Albert (Hrsg.) (2003): Anonymität im Internet – Grundlagen,
201 Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts,
202 Braunschweig, S. 78 ff.] darüber hinaus explizit zu einem
203 Recht auf Anonymität. Hintergrund solcher Ansätze zur
204 Begründung eines Rechts auf anonyme Kommunikation sind
205 Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur namentlichen
206 Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich Personen am
207 Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert sehen, weil
208 sie die Konsequenzen einer Äußerung fürchteten. Es soll
209 verhindert werden, dass in solchen Situationen eine Form der
210 Selbstzensur greift (siehe auch BGH, a.a.O.). Es liegt nahe,
211 dass dort, wo eine Pflicht zum Klarnamen besonders
212 weitreichende Folgen hat – also etwa der öffentlichen
213 Kommunikation, bei der strukturell Inhalte verloren gehen –
214 die Beeinträchtigung der Kommunikationsfreiheit besonders
215 groß ist. Ob das derzeitige rechtliche Konzept der
216 Kennzeichnungspflichten den verfassungsrechtlichen
217 Anforderungen genügt, ist bislang weder wissenschaftlich
218 noch in der Rechtsprechung abschließend geklärt.
219
220 Zudem verweist der BGH auf einfachgesetzlicher Ebene darauf,
221 dass die §§ 12 ff. TMG den Nutzern grundsätzlich ein Recht
222 zur anonymen Nutzung des Internets einräumen (müssen),
223 insbesondere aus § 13 Abs. 6 TMG [FN: Roggenkamp Jan,
224 Kommentar zu: BGH, Urteil vom 23.06.2009 - VI ZR 196/08,
225 Kommunikation und Recht (K&R), 2009, 571, 572.]; siehe dazu
226 Rz. [42] des Urteils.
227
228 Das deutsche Recht sieht – sowohl im Telemediengesetz als
229 auch im Rundfunkstaatsvertrag – die Ermöglichung einer
230 anonymen und pseudonymen Nutzung vor, soweit dies technisch
231 möglich und zumutbar ist. Darüber hinaus muss der Nutzer
232 über diese Möglichkeit informiert werden. Damit soll von
233 vornherein die Entstehung personenbezogener Daten verhindert
234 werden und somit dem Recht auf informationelle
235 Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1
236 GG Rechnung getragen werden. Ziel der Regelung war es, der
237 im digitalen Kontext allgegenwärtigen Identifizierbarkeit
238 durch die Zuordnung eindeutiger digitaler Kennungen
239 entgegenzutreten. Die Begriffe „anonymisieren“ und
240 „pseudonymisieren“ werden im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)
241 in § 3 „Weitere Begriffsbestimmungen“ definiert. Unter dem
242 Begriff anonymisieren wird die Veränderung personenbezogener
243 Daten derart verstanden, „dass die Einzelangaben über
244 persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur
245 mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten
246 und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren
247 natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Mit dem
248 Begriff „pseudonymisieren“ ist „das Ersetzen des Namens und
249 anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“
250 gemeint, „zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen
251 auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“
252
253 Die Ermöglichung einer anonymen und pseudonymen Nutzung
254 basiert auf der RICHTLINIE 2002/58/EG DES EUROPÄISCHEN
255 PARLAMENTS UND DES RATES vom 12. Juli 2002 über die
256 Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der
257 Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation
258 (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation).
259 Dort heißt es in den Erwägungsgründen, dass die Verarbeitung
260 personenbezogener Daten auf das erforderliche Mindestmaß und
261 die Verwendung anonymer oder pseudonymer Daten beschränkt
262 werden soll.
263
264 Diese grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers findet
265 auch bei der Nutzung von Angeboten zur politischen
266 Partizipation und Kommunikation Anwendung. [FN: Der
267 intendierten Zwecksetzung durch den Gesetzgeber würde eine
268 grundsätzliche Anwendbarkeit von Anonymisierungs- und
269 Pseudonymisierungsmöglichkeiten auch bei der Nutzung von
270 Angeboten zur politischen Partizipation und Kommunikation
271 entsprechen.] Neue Herausforderungen für die Gewährleistung
272 der Anonymität im Internet können sich unter Umständen durch
273 die flächendeckende Einführung des neuen Protokollstandards
274 IPv6 ergeben. [FN: Vgl. PG Zugang, Struktur und Sicherheit,
275 Kapitel 1.2.2]
276
277 Anonyme bzw. pseudonyme Nutzung von sozialen Netzwerken
278 Der Streit um den Wert anonymer Kommunikation entzündet sich
279 nicht nur an derzeitigen – und zusätzlich geforderten –
280 staatlichen Kennzeichnungspflichten, sondern auch am Handeln
281 privater Plattformen und Kommunikationstools, die Anmeldung
282 nur mit Klarnamen zulassen (etwa Google+). [FN: Boyd, Danah
283 (2011): „Real Names“ Policies Are an Abuse of Power, 4.
284 August 2011.
285 http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-na
286 mes.html]
287
288 Seitens der Anbieter wird die Verwendung von Pseudonymen
289 oder aber falschen Namen über die Allgemeinen
290 Geschäftsbedingungen ausgeschlossen bzw. als
291 vertragswidriges Verhalten definiert. Gegen diese Praxis
292 wird eingewendet, dass so eine Vielzahl von
293 personenbezogenen Daten entstehen würde, über die die Nutzer
294 schnell die Kontrolle verlieren könnten. Weiterhin wird
295 kritisiert, dass zahlreiche rechtliche Bestimmungen nicht
296 eingehalten würden. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass
297 auch Dritte Zugriff auf die personenbezogenen Daten nehmen
298 könnten und sie beispielsweise für Werbung oder aber die
299 Erstellung von Persönlichkeitsprofilen verwenden würden.
300 Zudem gibt es Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur
301 namentlichen Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich
302 Personen am Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert
303 sehen, weil sie negative Konsequenzen einer Äußerung in
304 beruflicher und persönlicher Hinsicht oder gezielte
305 Profilbildung anhand dieser politischen Meinungsbekundungen
306 fürchten. Es soll verhindert werden, dass in solchen
307 Situationen eine Form der Selbstzensur (sogenannter Chilling
308 effect) greift.
309
310 Diese vorgenannten Fragen sind auch für die aktive
311 politische Kommunikation und Partizipation von Nutzern im
312 Internet von Bedeutung, da viele Abgeordnete der nationalen
313 Parlamente und des Europäischen Parlamentes eine
314 Kommunikation via sozialer Netzwerke unterstützen und
315 ermöglichen. Eine Zuordnung von politischen
316 Meinungsäußerungen im Rahmen der Erstellung von
317 Persönlichkeitsprofilen ist daher durchaus denkbar und
318 könnte für andere Teilnehmer des politischen Diskurses zudem
319 von besonderer Qualität sein. Als mögliche Interessenten
320 hierfür kommen u. a. Unternehmen aus den Bereichen Marketing
321 und Public Relations sowie einzelne Interessenvertreter und
322 –verbände. Auch einzelne Personen aus privatem oder
323 beruflichem Umfeld könnten sich dafür interessieren.
324
325 Die Anbieter entsprechender Netzwerke berufen sich jedoch
326 grundsätzlich auf § 13 Abs. 6 des Telemediengesetzes, der
327 eine Pflicht zur Anonymisierung oder Pseudonymisierung dann
328 nicht vorschreiben würde, wenn diese nicht zumutbar sei. Da
329 soziale Netzwerke gerade auf personenbezogenen Daten beruhen
330 würden und ohne solche nicht funktionieren könnten, bestünde
331 keine Verpflichtung, einen anonymen oder aber pseudonymen
332 Zugriff für die Nutzer zu ermöglichen. Dieser Argumentation
333 steht die Position von Datenschützern und anderen entgegen,
334 die darauf verweisen, dass gerade in sozialen Netzwerken
335 eine pseudonymisierte Nutzung im Sinne des Grundrechts und
336 Datenschutzes möglich sein muss. Auch die anhaltenden
337 datenschutzrechtlichen Herausforderungen von sozialen
338 Netzwerken führen dazu, deren pseudonymisierte
339 Nutzungsmöglichkeit als Schutz zu diskutieren. Es gibt aber
340 auch soziale Netzwerke, die vornehmlich zur Darstellung der
341 beruflichen Qualifikation ihrer Mitglieder bestimmt sind.
342 Bei diesen ist die Verwendung von Klarnamen ursächlich für
343 das gesamte Geschäftsmodell an sich. Zudem käme es nicht zu
344 einer umfassenden Profilbildung bzw. eine Weitergabe von
345 Daten an Dritte fände nicht statt. Bei anderen
346 Geschäftsmodellen steht die Anonymität stärker im
347 Vordergrund. So bietet beispielsweise der
348 Microbloggingdienst Twitter auch eine anonyme Registrierung
349 der Nutzer an.
350
351 Eine abschließende rechtliche Klärung der aufgeworfenen
352 Fragen durch nationale oder ggf. europäische Gerichte steht
353 noch aus (zur wissenschaftlichen Aufarbeitung Heilmann
354 2012).
355 Neue Herausforderungen für die Gewährleistung der Anonymität
356 können sich unter Umständen zudem durch die Einführung des
357 neuen Web-Standards IPv6 ergeben, der die Zahl der
358 verfügbaren, eindeutig identifizierbaren IP-Adressen
359 deutlich erhöhen wird. Aus diesem Grund wird es künftig
360 nicht mehr unbedingt notwendig sein, die Teilnehmer am
361 Internet mit dynamischen Adressen auszustatten. Vielmehr
362 werden statische Adressen vergeben werden können, mit der
363 Folge, dass die Identifikation einzelner Teilnehmer
364 erleichtert wird (dazu Hoeren, Anonymität im Web –
365 Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, ZRP 2010, 251, 252
366 ff.). Hier berührt sich die Debatte mit der über
367 informationelle Selbstbestimmung im Netz.

Der Text verglichen mit der Originalversion

1 Im Rahmen der politischen Teilhabe und Partizipation stellt
2 sich seit jeher auch die Frage, inwiefern diese
3 personalisiert oder aber anonym erfolgen kann. Kommunikation
4 im Internet beinhaltet eine neue Qualität, denn das Internet
5 wird als ein wichtiges Medium für anonyme Kommunikation
6 angesehen. Es ermöglicht einen politischen Meinungsaustausch
7 ohne unmittelbaren persönlichen Bezug und ohne direkte
8 Identifikation des Gesprächspartners. Erfolgt Kommunikation
9 anonym, ist also bei der Äußerung nicht klar, wer
10 kommuniziert, so verändert dies generell die
11 Gesprächssituation mit Folgen für die Interessen des
12 Kommunizierenden und Dritter. So entfallen zunächst
13 Informationen über den Äußernden, was die Überzeugungskraft
14 der Aussage bei Zuhörern reduzieren kann. Darüber hinaus hat
15 die anonyme Äußerung Folgen für Dritte, die von der Aussage
16 betroffen sind. Ihnen fehlen Informationen zur Einschätzung
17 des Sprechers; die Identifizierbarkeit ist erschwert, was
18 die Rechtsverfolgung beeinträchtigen kann, etwa wenn
19 Persönlichkeitsrechte durch die Aussage betroffen sind.
20 Letzteres gilt auch für die Durchsetzung öffentlicher
21 Interessen, etwa der Strafverfolgung, oder aber auch im
22 Bereich des Jugendschutzes. Dass der Sprecher sich nicht zu
23 erkennen gibt, bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich
24 und rechtlich eine Identifikation unmöglich ist.
25
26 Mit der fehlenden Rückführbarkeit auf eine Person wird auch
27 die soziale Kontrolle weniger wirksam; so wird beobachtet,
28 dass bei anonymer Kommunikation die Sprecher enthemmt sein
29 können bzw. sich nicht an soziale Konventionen halten. Die
30 Verringerung sozialer Kontrolle ist, anders herum,
31 beispielsweise in Abhängigkeitsbeziehungen etwa bei
32 Arbeitnehmern oder Auszubildenden mit der Möglichkeit
33 verbunden, sich ohne Furcht vor Sanktionen äußern zu können.
34 Insofern können der öffentlichen Kommunikation Äußerungen
35 verloren gehen, die – wenn keine anonyme Kommunikation
36 möglich ist – aus Furcht vor solchen Reaktionen
37 unterbleiben. Die anonyme oder pseudonyme Nutzung ermöglicht
38 es den Bürgerinnen und Bürgern also, im Einzelfall und nach
39 ihrem eigenen Dafürhalten eine Meinung frei artikulieren zu
40 können, ohne Ächtung und Nachteile befürchten zu müssen.
41 Dies ist essentiell für die freie Meinungsbildung in einer
42 Demokratie. Es entspricht zudem auch der Begegnung im
43 öffentlichen Raum, wo sich Menschen zunächst ohne
44 Namensnennung begegnen und einander dann vorstellen, wenn
45 sie selbst es für geboten halten.
46
47 Welche der vorgenannten Wirkungen des anonymen
48 Kommunizierens für rechtliche Einordnungen relevant sind,
49 hängt daher stark vom Kontext der Äußerungen ab. [FN: Vgl.
50 zu den vorgenannten Kriterien und ihrer rechtlichen
51 Einordnung Heilmann, Stefan (2012): Informationspflichten im
52 Telemedienrecht und User-generated Content, Hamburg (in
53 Vorbereitung).]
54
55 Politische Auseinandersetzungen in Demokratien werden in
56 unterschiedlichen Medien und Ebenen geführt. Hierbei können
57 auch wiederkehrende Abläufe und Verhaltensweisen
58 festgestellt werden. So wird beispielsweise gefordert, dass
59 die politische Auseinandersetzung im Regelfall mit „offenem
60 Visier“ stattfinden sollte. Schließlich sei eine
61 Personalisierung von politischen Äußerungen in Deutschland
62 auch nicht mit vergleichbaren negativen Folgen verbunden,
63 wie dies in autoritären Regimen ohne einen die Grundrechte
64 garantierenden Rechtsstaat der Fall ist. Für die Staaten des
65 Arabischen Frühlings war die Möglichkeit einer anonymen
66 Kommunikation ein wichtiger Faktor, der das Aufbäumen für
67 mehr Demokratie gefördert hat. Denn die Möglichkeit zur
68 freien Meinungsäußerung, unbeobachteten Kommunikation oder
69 aber unabhängige Medien waren in diesen Staaten größtenteils
70 nicht vorhanden bzw. wurden eingeschränkt. Das Internet und
71 auch die Sozialen Netzwerke haben daher einen wichtigen
72 Beitrag für die Freiheitsbewegungen in diesen Ländern
73 geleistet. Besonders in anderen Staaten, in denen Menschen
74 noch immer nicht frei ihre politische Überzeugung und
75 Meinung äußern können, spielt die durch das Internet
76 gewährleistete Anonymität eine grundlegende Rolle bei der
77 politischen Diskussion.
78
79 Gleichwohl können sich Nachteile ergeben, etwa durch den
80 Bezug zu einem Arbeitgeber. Darüber hinaus wird angeführt,
81 dass politische Auseinandersetzungen gerade von einer
82 namentlichen Zuordnung zu einzelnen Aussagen profitieren
83 können. Eine persönliche Verantwortung für den Inhalt könne
84 ihnen eine höhere Bedeutung verleihen und sie können somit
85 auch an Einfluss gewinnen. Nichtsdestotrotz obliegt es in
86 einer freiheitlichen Gesellschaft letztlich dem
87 Kommunikationsteilnehmer selbst, wie er sich und seine
88 politische Auffassung präsentieren möchte. Schließlich trägt
89 er hierfür auch die Verantwortung.
90
91
92
93 Die nachfolgenden Kapitel sind durch die Fraktionen CDU/CSU
94 und FDP streitig gestellt. Es liegt ein Alternativtext vor
95 (s. A-Drs. 17 (24) 053 A,
96 http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun
97 gen/20120625/A-Drs_17_24_053_A_-_PG_Demokratie_und_Staat_Alt
98 ernativtext_CDU_CSU_und_FDP_Kap__1_4_2_5_1__1_4_2_5_2.pdf )
99
100
101 Anonymität im Internet
102 Den normativen Rahmen bildet der verfassungsrechtliche
103 Schutz der Kommunikation in seiner derzeitigen Gestalt. Der
104 Rahmen ist komplex und in den Strukturen umstritten, er kann
105 hier nur skizziert werden. Anknüpfend an verschiedene
106 mögliche Formen des anonymen Handelns wäre zunächst das
107 anonyme bloße Surfen zu thematisieren. Für dessen Schutz
108 erscheint eine Herleitung aus dem Allgemeinen
109 Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1
110 GG, möglich. [FN: so etwa Denninger, Erhard, Anonymität –
111 Erscheinungsformen und verfassungsrechtliche Fundierung, in:
112 Bäumler, Helmut/von Mutius, Albert (Hrsg.) (2003):
113 Anonymität im Internet – Grundlagen, Methoden und Tools zur
114 Realisierung eines Grundrechts, Braunschweig, S. 41 ff.]
115 Ebenso wird auf das Recht auf informationelle
116 Selbstbestimmung zurückgegriffen. [Vgl. Bäumler, Das Recht
117 auf Anonymität, a.a.O., S. 1 ff.] Schwieriger ist die
118 Einordnung aktiver kommunikativer Nutzung.
119
120 Wenn es um die aktive anonyme Kommunikation geht, geraten
121 auch die Kommunikationsfreiheiten ins Blickfeld. Hier ist
122 Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die Meinungsfreiheit, betroffen, auch
123 anonym Geäußertes ist grundsätzlich geschützt. Dies hat die
124 Rechtsprechung jüngst auch für Internet-basierte
125 Kommunikation herausgearbeitet, sehr deutlich vor allem im
126 Rahmen der „Spickmich-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs
127 (BGHZ 181, 328 = NJW 2009, 2888 = MMR 2009, 608
128 „Spickmich“). Darin ging es um die Zulässigkeit
129 personenbezogener Bewertungsportale (in diesem Falle von
130 Lehrern) im Internet. Zum Wert der anonymen Kommunikation
131 führte der BGH aus:
132
133 „[38] Die Datenerhebung ist auch nicht deshalb unzulässig,
134 weil sie wegen der begrenzten Anzahl der anonymen
135 Bewertungen ungeeignet wäre, das Interesse der Nutzer zu
136 befriedigen. Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent
137 (vgl. Senat VersR 2007, 1004, 1005 [= MMR 2007, 518]).
138 Dementsprechende Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten ggü.
139 dem Diensteanbieter finden sich in den §§12 ff. TMG, den
140 Nachfolgeregelungen zu §4 Abs. 4 Nr.10 TDG. Eine
141 Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen,
142 die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können,
143 ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die
144 Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung
145 zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich, um den
146 es im Streitfall geht, die Gefahr begründen, dass der
147 Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen
148 negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine
149 Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll
150 durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung
151 entgegengewirkt werden (vgl. Ballhausen/Roggenkamp, K&R
152 2008, 403, 406).“
153
154 Diese Wertung steht im Einklang mit früheren Entscheidungen
155 des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. Demnach
156 verleiht die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit als
157 „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in
158 der Gesellschaft“ [BVerfGE 7, 198, 208; siehe auch BVerfGE
159 85, 23, 31.] dem Einzelnen das Recht, autonom darüber zu
160 entscheiden, ob er seine Identität in der Kommunikation zu
161 erkennen gibt.
162
163 Dass anonym Geäußertes vollen grundrechtlichen Schutz
164 genießt, bedeutet nicht, dass der Staat das anonyme
165 Kommunizieren nicht ganz oder teilweise unterbinden, also
166 etwa Kennzeichnungspflichten als grundrechtseinschränkende
167 Maßnahmen vorsehen darf. Dazu existieren bereits Regelungen
168 zu den „allgemeinen Informationspflichten“ in Form des § 5
169 Abs. 1 TMG und § 55 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag, wobei
170 letzterer Kommunikation ausschließlich zu privaten Zwecken
171 von Kennzeichnungspflichten befreit, also anonym zulässt.
172 Die Regelungen arbeiten mit zahlreichen unbestimmten
173 Begriffen („persönliche oder familiäre Zwecke“, „in der
174 Regel entgeltlich“, „geschäftsmäßig“), was die Anwendung
175 erschwert, zumal auch der Adressat der Regelung nicht immer
176 eindeutig zu bestimmen ist (der Plattformanbieter, der Autor
177 eines Blogbeitrages oder gar eines einzelnen
178 Twitter-Feeds?).
179
180 Kennzeichnungspflichten reagieren auf Risiken anonymer
181 Kommunikation, etwa Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung (im
182 Hinblick auf kommerzielle oder auch etwa
183 persönlichkeitsrechtliche Interessen), aber auch
184 Manipulationsrisiken. [FN: vgl. etwa Gomille, Christian:
185 Prangerwirkung und Manipulationsgefahr bei Bewertungsforen
186 im Internet, ZUM 2009, 815, 821 f.] Als ein mögliches
187 Szenario sei etwa die Vortäuschung von Meinungsmacht über
188 die Verwendung mehrerer Identitäten auf Bewertungsportalen
189 genannt (sock-puppeting).
190
191 Kennzeichnungspflichten greifen ihrerseits in Grundrechte
192 ein, je nach Angebot in Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit)
193 oder Abs. 2 GG (Medienfreiheiten), auch Eingriffe in andere
194 Grundrechte sind je nach Kontext und Folgen möglich.
195
196 Über eine „kommunikationstheoretische Deutung des
197 allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ kommt Bizer [FN: Bizer
198 Johann, Das Recht auf Anonymität in der Zange gesetzlicher
199 Identifizierungspflichten, in: Bäumler, Helmut/von Mutius,
200 Albert (Hrsg.) (2003): Anonymität im Internet – Grundlagen,
201 Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts,
202 Braunschweig, S. 78 ff.] darüber hinaus explizit zu einem
203 Recht auf Anonymität. Hintergrund solcher Ansätze zur
204 Begründung eines Rechts auf anonyme Kommunikation sind
205 Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur namentlichen
206 Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich Personen am
207 Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert sehen, weil
208 sie die Konsequenzen einer Äußerung fürchteten. Es soll
209 verhindert werden, dass in solchen Situationen eine Form der
210 Selbstzensur greift (siehe auch BGH, a.a.O.). Es liegt nahe,
211 dass dort, wo eine Pflicht zum Klarnamen besonders
212 weitreichende Folgen hat – also etwa der öffentlichen
213 Kommunikation, bei der strukturell Inhalte verloren gehen –
214 die Beeinträchtigung der Kommunikationsfreiheit besonders
215 groß ist. Ob das derzeitige rechtliche Konzept der
216 Kennzeichnungspflichten den verfassungsrechtlichen
217 Anforderungen genügt, ist bislang weder wissenschaftlich
218 noch in der Rechtsprechung abschließend geklärt.
219
220 Zudem verweist der BGH auf einfachgesetzlicher Ebene darauf,
221 dass die §§ 12 ff. TMG den Nutzern grundsätzlich ein Recht
222 zur anonymen Nutzung des Internets einräumen (müssen),
223 insbesondere aus § 13 Abs. 6 TMG [FN: Roggenkamp Jan,
224 Kommentar zu: BGH, Urteil vom 23.06.2009 - VI ZR 196/08,
225 Kommunikation und Recht (K&R), 2009, 571, 572.]; siehe dazu
226 Rz. [42] des Urteils.
227
228 Das deutsche Recht sieht – sowohl im Telemediengesetz als
229 auch im Rundfunkstaatsvertrag – die Ermöglichung einer
230 anonymen und pseudonymen Nutzung vor, soweit dies technisch
231 möglich und zumutbar ist. Darüber hinaus muss der Nutzer
232 über diese Möglichkeit informiert werden. Damit soll von
233 vornherein die Entstehung personenbezogener Daten verhindert
234 werden und somit dem Recht auf informationelle
235 Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1
236 GG Rechnung getragen werden. Ziel der Regelung war es, der
237 im digitalen Kontext allgegenwärtigen Identifizierbarkeit
238 durch die Zuordnung eindeutiger digitaler Kennungen
239 entgegenzutreten. Die Begriffe „anonymisieren“ und
240 „pseudonymisieren“ werden im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)
241 in § 3 „Weitere Begriffsbestimmungen“ definiert. Unter dem
242 Begriff anonymisieren wird die Veränderung personenbezogener
243 Daten derart verstanden, „dass die Einzelangaben über
244 persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur
245 mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten
246 und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren
247 natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Mit dem
248 Begriff „pseudonymisieren“ ist „das Ersetzen des Namens und
249 anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“
250 gemeint, „zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen
251 auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“
252
253 Die Ermöglichung einer anonymen und pseudonymen Nutzung
254 basiert auf der RICHTLINIE 2002/58/EG DES EUROPÄISCHEN
255 PARLAMENTS UND DES RATES vom 12. Juli 2002 über die
256 Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der
257 Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation
258 (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation).
259 Dort heißt es in den Erwägungsgründen, dass die Verarbeitung
260 personenbezogener Daten auf das erforderliche Mindestmaß und
261 die Verwendung anonymer oder pseudonymer Daten beschränkt
262 werden soll.
263
264 Diese grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers findet
265 auch bei der Nutzung von Angeboten zur politischen
266 Partizipation und Kommunikation Anwendung. [FN: Der
267 intendierten Zwecksetzung durch den Gesetzgeber würde eine
268 grundsätzliche Anwendbarkeit von Anonymisierungs- und
269 Pseudonymisierungsmöglichkeiten auch bei der Nutzung von
270 Angeboten zur politischen Partizipation und Kommunikation
271 entsprechen.] Neue Herausforderungen für die Gewährleistung
272 der Anonymität im Internet können sich unter Umständen durch
273 die flächendeckende Einführung des neuen Protokollstandards
274 IPv6 ergeben. [FN: Vgl. PG Zugang, Struktur und Sicherheit,
275 Kapitel 1.2.2]
276
277 Anonyme bzw. pseudonyme Nutzung von sozialen Netzwerken
278 Der Streit um den Wert anonymer Kommunikation entzündet sich
279 nicht nur an derzeitigen – und zusätzlich geforderten –
280 staatlichen Kennzeichnungspflichten, sondern auch am Handeln
281 privater Plattformen und Kommunikationstools, die Anmeldung
282 nur mit Klarnamen zulassen (etwa Google+). [FN: Boyd, Danah
283 (2011): „Real Names“ Policies Are an Abuse of Power, 4.
284 August 2011.
285 http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-na
286 mes.html]
287
288 Seitens der Anbieter wird die Verwendung von Pseudonymen
289 oder aber falschen Namen über die Allgemeinen
290 Geschäftsbedingungen ausgeschlossen bzw. als
291 vertragswidriges Verhalten definiert. Gegen diese Praxis
292 wird eingewendet, dass so eine Vielzahl von
293 personenbezogenen Daten entstehen würde, über die die Nutzer
294 schnell die Kontrolle verlieren könnten. Weiterhin wird
295 kritisiert, dass zahlreiche rechtliche Bestimmungen nicht
296 eingehalten würden. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass
297 auch Dritte Zugriff auf die personenbezogenen Daten nehmen
298 könnten und sie beispielsweise für Werbung oder aber die
299 Erstellung von Persönlichkeitsprofilen verwenden würden.
300 Zudem gibt es Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur
301 namentlichen Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich
302 Personen am Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert
303 sehen, weil sie negative Konsequenzen einer Äußerung in
304 beruflicher und persönlicher Hinsicht oder gezielte
305 Profilbildung anhand dieser politischen Meinungsbekundungen
306 fürchten. Es soll verhindert werden, dass in solchen
307 Situationen eine Form der Selbstzensur (sogenannter Chilling
308 effect) greift.
309
310 Diese vorgenannten Fragen sind auch für die aktive
311 politische Kommunikation und Partizipation von Nutzern im
312 Internet von Bedeutung, da viele Abgeordnete der nationalen
313 Parlamente und des Europäischen Parlamentes eine
314 Kommunikation via sozialer Netzwerke unterstützen und
315 ermöglichen. Eine Zuordnung von politischen
316 Meinungsäußerungen im Rahmen der Erstellung von
317 Persönlichkeitsprofilen ist daher durchaus denkbar und
318 könnte für andere Teilnehmer des politischen Diskurses zudem
319 von besonderer Qualität sein. Als mögliche Interessenten
320 hierfür kommen u. a. Unternehmen aus den Bereichen Marketing
321 und Public Relations sowie einzelne Interessenvertreter und
322 –verbände. Auch einzelne Personen aus privatem oder
323 beruflichem Umfeld könnten sich dafür interessieren.
324
325 Die Anbieter entsprechender Netzwerke berufen sich jedoch
326 grundsätzlich auf § 13 Abs. 6 des Telemediengesetzes, der
327 eine Pflicht zur Anonymisierung oder Pseudonymisierung dann
328 nicht vorschreiben würde, wenn diese nicht zumutbar sei. Da
329 soziale Netzwerke gerade auf personenbezogenen Daten beruhen
330 würden und ohne solche nicht funktionieren könnten, bestünde
331 keine Verpflichtung, einen anonymen oder aber pseudonymen
332 Zugriff für die Nutzer zu ermöglichen. Dieser Argumentation
333 steht die Position von Datenschützern und anderen entgegen,
334 die darauf verweisen, dass gerade in sozialen Netzwerken
335 eine pseudonymisierte Nutzung im Sinne des Grundrechts und
336 Datenschutzes möglich sein muss. Auch die anhaltenden
337 datenschutzrechtlichen Herausforderungen von sozialen
338 Netzwerken führen dazu, deren pseudonymisierte
339 Nutzungsmöglichkeit als Schutz zu diskutieren. Es gibt aber
340 auch soziale Netzwerke, die vornehmlich zur Darstellung der
341 beruflichen Qualifikation ihrer Mitglieder bestimmt sind.
342 Bei diesen ist die Verwendung von Klarnamen ursächlich für
343 das gesamte Geschäftsmodell an sich. Zudem käme es nicht zu
344 einer umfassenden Profilbildung bzw. eine Weitergabe von
345 Daten an Dritte fände nicht statt. Bei anderen
346 Geschäftsmodellen steht die Anonymität stärker im
347 Vordergrund. So bietet beispielsweise der
348 Microbloggingdienst Twitter auch eine anonyme Registrierung
349 der Nutzer an.
350
351 Eine abschließende rechtliche Klärung der aufgeworfenen
352 Fragen durch nationale oder ggf. europäische Gerichte steht
353 noch aus (zur wissenschaftlichen Aufarbeitung Heilmann
354 2012).
355 Neue Herausforderungen für die Gewährleistung der Anonymität
356 können sich unter Umständen zudem durch die Einführung des
357 neuen Web-Standards IPv6 ergeben, der die Zahl der
358 verfügbaren, eindeutig identifizierbaren IP-Adressen
359 deutlich erhöhen wird. Aus diesem Grund wird es künftig
360 nicht mehr unbedingt notwendig sein, die Teilnehmer am
361 Internet mit dynamischen Adressen auszustatten. Vielmehr
362 werden statische Adressen vergeben werden können, mit der
363 Folge, dass die Identifikation einzelner Teilnehmer
364 erleichtert wird (dazu Hoeren, Anonymität im Web –
365 Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, ZRP 2010, 251, 252
366 ff.). Hier berührt sich die Debatte mit der über
367 informationelle Selbstbestimmung im Netz.

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