Papier: 01.04.06 Partizipation und Anonymität
Originalversion
1 | Im Rahmen der politischen Teilhabe und Partizipation stellt |
2 | sich seit jeher auch die Frage, inwiefern diese |
3 | personalisiert oder aber anonym erfolgen kann. Kommunikation |
4 | im Internet beinhaltet eine neue Qualität, denn das Internet |
5 | wird als ein wichtiges Medium für anonyme Kommunikation |
6 | angesehen. Es ermöglicht einen politischen Meinungsaustausch |
7 | ohne unmittelbaren persönlichen Bezug und ohne direkte |
8 | Identifikation des Gesprächspartners. Erfolgt Kommunikation |
9 | anonym, ist also bei der Äußerung nicht klar, wer |
10 | kommuniziert, so verändert dies generell die |
11 | Gesprächssituation mit Folgen für die Interessen des |
12 | Kommunizierenden und Dritter. So entfallen zunächst |
13 | Informationen über den Äußernden, was die Überzeugungskraft |
14 | der Aussage bei Zuhörern reduzieren kann. Darüber hinaus hat |
15 | die anonyme Äußerung Folgen für Dritte, die von der Aussage |
16 | betroffen sind. Ihnen fehlen Informationen zur Einschätzung |
17 | des Sprechers; die Identifizierbarkeit ist erschwert, was |
18 | die Rechtsverfolgung beeinträchtigen kann, etwa wenn |
19 | Persönlichkeitsrechte durch die Aussage betroffen sind. |
20 | Letzteres gilt auch für die Durchsetzung öffentlicher |
21 | Interessen, etwa der Strafverfolgung, oder aber auch im |
22 | Bereich des Jugendschutzes. Dass der Sprecher sich nicht zu |
23 | erkennen gibt, bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich |
24 | und rechtlich eine Identifikation unmöglich ist. |
25 | |
26 | Mit der fehlenden Rückführbarkeit auf eine Person wird auch |
27 | die soziale Kontrolle weniger wirksam; so wird beobachtet, |
28 | dass bei anonymer Kommunikation die Sprecher enthemmt sein |
29 | können bzw. sich nicht an soziale Konventionen halten. Die |
30 | Verringerung sozialer Kontrolle ist, anders herum, |
31 | beispielsweise in Abhängigkeitsbeziehungen etwa bei |
32 | Arbeitnehmern oder Auszubildenden mit der Möglichkeit |
33 | verbunden, sich ohne Furcht vor Sanktionen äußern zu können. |
34 | Insofern können der öffentlichen Kommunikation Äußerungen |
35 | verloren gehen, die – wenn keine anonyme Kommunikation |
36 | möglich ist – aus Furcht vor solchen Reaktionen |
37 | unterbleiben. Die anonyme oder pseudonyme Nutzung ermöglicht |
38 | es den Bürgerinnen und Bürgern also, im Einzelfall und nach |
39 | ihrem eigenen Dafürhalten eine Meinung frei artikulieren zu |
40 | können, ohne Ächtung und Nachteile befürchten zu müssen. |
41 | Dies ist essentiell für die freie Meinungsbildung in einer |
42 | Demokratie. Es entspricht zudem auch der Begegnung im |
43 | öffentlichen Raum, wo sich Menschen zunächst ohne |
44 | Namensnennung begegnen und einander dann vorstellen, wenn |
45 | sie selbst es für geboten halten. |
46 | |
47 | Welche der vorgenannten Wirkungen des anonymen |
48 | Kommunizierens für rechtliche Einordnungen relevant sind, |
49 | hängt daher stark vom Kontext der Äußerungen ab. [FN: Vgl. |
50 | zu den vorgenannten Kriterien und ihrer rechtlichen |
51 | Einordnung Heilmann, Stefan (2012): Informationspflichten im |
52 | Telemedienrecht und User-generated Content, Hamburg (in |
53 | Vorbereitung).] |
54 | |
55 | Politische Auseinandersetzungen in Demokratien werden in |
56 | unterschiedlichen Medien und Ebenen geführt. Hierbei können |
57 | auch wiederkehrende Abläufe und Verhaltensweisen |
58 | festgestellt werden. So wird beispielsweise gefordert, dass |
59 | die politische Auseinandersetzung im Regelfall mit „offenem |
60 | Visier“ stattfinden sollte. Schließlich sei eine |
61 | Personalisierung von politischen Äußerungen in Deutschland |
62 | auch nicht mit vergleichbaren negativen Folgen verbunden, |
63 | wie dies in autoritären Regimen ohne einen die Grundrechte |
64 | garantierenden Rechtsstaat der Fall ist. Für die Staaten des |
65 | Arabischen Frühlings war die Möglichkeit einer anonymen |
66 | Kommunikation ein wichtiger Faktor, der das Aufbäumen für |
67 | mehr Demokratie gefördert hat. Denn die Möglichkeit zur |
68 | freien Meinungsäußerung, unbeobachteten Kommunikation oder |
69 | aber unabhängige Medien waren in diesen Staaten größtenteils |
70 | nicht vorhanden bzw. wurden eingeschränkt. Das Internet und |
71 | auch die Sozialen Netzwerke haben daher einen wichtigen |
72 | Beitrag für die Freiheitsbewegungen in diesen Ländern |
73 | geleistet. Besonders in anderen Staaten, in denen Menschen |
74 | noch immer nicht frei ihre politische Überzeugung und |
75 | Meinung äußern können, spielt die durch das Internet |
76 | gewährleistete Anonymität eine grundlegende Rolle bei der |
77 | politischen Diskussion. |
78 | |
79 | Gleichwohl können sich Nachteile ergeben, etwa durch den |
80 | Bezug zu einem Arbeitgeber. Darüber hinaus wird angeführt, |
81 | dass politische Auseinandersetzungen gerade von einer |
82 | namentlichen Zuordnung zu einzelnen Aussagen profitieren |
83 | können. Eine persönliche Verantwortung für den Inhalt könne |
84 | ihnen eine höhere Bedeutung verleihen und sie können somit |
85 | auch an Einfluss gewinnen. Nichtsdestotrotz obliegt es in |
86 | einer freiheitlichen Gesellschaft letztlich dem |
87 | Kommunikationsteilnehmer selbst, wie er sich und seine |
88 | politische Auffassung präsentieren möchte. Schließlich trägt |
89 | er hierfür auch die Verantwortung. |
90 | |
91 | |
92 | |
93 | Die nachfolgenden Kapitel sind durch die Fraktionen CDU/CSU |
94 | und FDP streitig gestellt. Es liegt ein Alternativtext vor |
95 | (s. A-Drs. 17 (24) 053 A, |
96 | http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun |
97 | gen/20120625/A-Drs_17_24_053_A_-_PG_Demokratie_und_Staat_Alt |
98 | ernativtext_CDU_CSU_und_FDP_Kap__1_4_2_5_1__1_4_2_5_2.pdf ) |
99 | |
100 | |
101 | Anonymität im Internet |
102 | Den normativen Rahmen bildet der verfassungsrechtliche |
103 | Schutz der Kommunikation in seiner derzeitigen Gestalt. Der |
104 | Rahmen ist komplex und in den Strukturen umstritten, er kann |
105 | hier nur skizziert werden. Anknüpfend an verschiedene |
106 | mögliche Formen des anonymen Handelns wäre zunächst das |
107 | anonyme bloße Surfen zu thematisieren. Für dessen Schutz |
108 | erscheint eine Herleitung aus dem Allgemeinen |
109 | Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 |
110 | GG, möglich. [FN: so etwa Denninger, Erhard, Anonymität – |
111 | Erscheinungsformen und verfassungsrechtliche Fundierung, in: |
112 | Bäumler, Helmut/von Mutius, Albert (Hrsg.) (2003): |
113 | Anonymität im Internet – Grundlagen, Methoden und Tools zur |
114 | Realisierung eines Grundrechts, Braunschweig, S. 41 ff.] |
115 | Ebenso wird auf das Recht auf informationelle |
116 | Selbstbestimmung zurückgegriffen. [Vgl. Bäumler, Das Recht |
117 | auf Anonymität, a.a.O., S. 1 ff.] Schwieriger ist die |
118 | Einordnung aktiver kommunikativer Nutzung. |
119 | |
120 | Wenn es um die aktive anonyme Kommunikation geht, geraten |
121 | auch die Kommunikationsfreiheiten ins Blickfeld. Hier ist |
122 | Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die Meinungsfreiheit, betroffen, auch |
123 | anonym Geäußertes ist grundsätzlich geschützt. Dies hat die |
124 | Rechtsprechung jüngst auch für Internet-basierte |
125 | Kommunikation herausgearbeitet, sehr deutlich vor allem im |
126 | Rahmen der „Spickmich-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs |
127 | (BGHZ 181, 328 = NJW 2009, 2888 = MMR 2009, 608 |
128 | „Spickmich“). Darin ging es um die Zulässigkeit |
129 | personenbezogener Bewertungsportale (in diesem Falle von |
130 | Lehrern) im Internet. Zum Wert der anonymen Kommunikation |
131 | führte der BGH aus: |
132 | |
133 | „[38] Die Datenerhebung ist auch nicht deshalb unzulässig, |
134 | weil sie wegen der begrenzten Anzahl der anonymen |
135 | Bewertungen ungeeignet wäre, das Interesse der Nutzer zu |
136 | befriedigen. Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent |
137 | (vgl. Senat VersR 2007, 1004, 1005 [= MMR 2007, 518]). |
138 | Dementsprechende Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten ggü. |
139 | dem Diensteanbieter finden sich in den §§12 ff. TMG, den |
140 | Nachfolgeregelungen zu §4 Abs. 4 Nr.10 TDG. Eine |
141 | Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, |
142 | die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können, |
143 | ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die |
144 | Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung |
145 | zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich, um den |
146 | es im Streitfall geht, die Gefahr begründen, dass der |
147 | Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen |
148 | negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine |
149 | Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll |
150 | durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung |
151 | entgegengewirkt werden (vgl. Ballhausen/Roggenkamp, K&R |
152 | 2008, 403, 406).“ |
153 | |
154 | Diese Wertung steht im Einklang mit früheren Entscheidungen |
155 | des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. Demnach |
156 | verleiht die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit als |
157 | „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in |
158 | der Gesellschaft“ [BVerfGE 7, 198, 208; siehe auch BVerfGE |
159 | 85, 23, 31.] dem Einzelnen das Recht, autonom darüber zu |
160 | entscheiden, ob er seine Identität in der Kommunikation zu |
161 | erkennen gibt. |
162 | |
163 | Dass anonym Geäußertes vollen grundrechtlichen Schutz |
164 | genießt, bedeutet nicht, dass der Staat das anonyme |
165 | Kommunizieren nicht ganz oder teilweise unterbinden, also |
166 | etwa Kennzeichnungspflichten als grundrechtseinschränkende |
167 | Maßnahmen vorsehen darf. Dazu existieren bereits Regelungen |
168 | zu den „allgemeinen Informationspflichten“ in Form des § 5 |
169 | Abs. 1 TMG und § 55 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag, wobei |
170 | letzterer Kommunikation ausschließlich zu privaten Zwecken |
171 | von Kennzeichnungspflichten befreit, also anonym zulässt. |
172 | Die Regelungen arbeiten mit zahlreichen unbestimmten |
173 | Begriffen („persönliche oder familiäre Zwecke“, „in der |
174 | Regel entgeltlich“, „geschäftsmäßig“), was die Anwendung |
175 | erschwert, zumal auch der Adressat der Regelung nicht immer |
176 | eindeutig zu bestimmen ist (der Plattformanbieter, der Autor |
177 | eines Blogbeitrages oder gar eines einzelnen |
178 | Twitter-Feeds?). |
179 | |
180 | Kennzeichnungspflichten reagieren auf Risiken anonymer |
181 | Kommunikation, etwa Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung (im |
182 | Hinblick auf kommerzielle oder auch etwa |
183 | persönlichkeitsrechtliche Interessen), aber auch |
184 | Manipulationsrisiken. [FN: vgl. etwa Gomille, Christian: |
185 | Prangerwirkung und Manipulationsgefahr bei Bewertungsforen |
186 | im Internet, ZUM 2009, 815, 821 f.] Als ein mögliches |
187 | Szenario sei etwa die Vortäuschung von Meinungsmacht über |
188 | die Verwendung mehrerer Identitäten auf Bewertungsportalen |
189 | genannt (sock-puppeting). |
190 | |
191 | Kennzeichnungspflichten greifen ihrerseits in Grundrechte |
192 | ein, je nach Angebot in Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit) |
193 | oder Abs. 2 GG (Medienfreiheiten), auch Eingriffe in andere |
194 | Grundrechte sind je nach Kontext und Folgen möglich. |
195 | |
196 | Über eine „kommunikationstheoretische Deutung des |
197 | allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ kommt Bizer [FN: Bizer |
198 | Johann, Das Recht auf Anonymität in der Zange gesetzlicher |
199 | Identifizierungspflichten, in: Bäumler, Helmut/von Mutius, |
200 | Albert (Hrsg.) (2003): Anonymität im Internet – Grundlagen, |
201 | Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts, |
202 | Braunschweig, S. 78 ff.] darüber hinaus explizit zu einem |
203 | Recht auf Anonymität. Hintergrund solcher Ansätze zur |
204 | Begründung eines Rechts auf anonyme Kommunikation sind |
205 | Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur namentlichen |
206 | Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich Personen am |
207 | Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert sehen, weil |
208 | sie die Konsequenzen einer Äußerung fürchteten. Es soll |
209 | verhindert werden, dass in solchen Situationen eine Form der |
210 | Selbstzensur greift (siehe auch BGH, a.a.O.). Es liegt nahe, |
211 | dass dort, wo eine Pflicht zum Klarnamen besonders |
212 | weitreichende Folgen hat – also etwa der öffentlichen |
213 | Kommunikation, bei der strukturell Inhalte verloren gehen – |
214 | die Beeinträchtigung der Kommunikationsfreiheit besonders |
215 | groß ist. Ob das derzeitige rechtliche Konzept der |
216 | Kennzeichnungspflichten den verfassungsrechtlichen |
217 | Anforderungen genügt, ist bislang weder wissenschaftlich |
218 | noch in der Rechtsprechung abschließend geklärt. |
219 | |
220 | Zudem verweist der BGH auf einfachgesetzlicher Ebene darauf, |
221 | dass die §§ 12 ff. TMG den Nutzern grundsätzlich ein Recht |
222 | zur anonymen Nutzung des Internets einräumen (müssen), |
223 | insbesondere aus § 13 Abs. 6 TMG [FN: Roggenkamp Jan, |
224 | Kommentar zu: BGH, Urteil vom 23.06.2009 - VI ZR 196/08, |
225 | Kommunikation und Recht (K&R), 2009, 571, 572.]; siehe dazu |
226 | Rz. [42] des Urteils. |
227 | |
228 | Das deutsche Recht sieht – sowohl im Telemediengesetz als |
229 | auch im Rundfunkstaatsvertrag – die Ermöglichung einer |
230 | anonymen und pseudonymen Nutzung vor, soweit dies technisch |
231 | möglich und zumutbar ist. Darüber hinaus muss der Nutzer |
232 | über diese Möglichkeit informiert werden. Damit soll von |
233 | vornherein die Entstehung personenbezogener Daten verhindert |
234 | werden und somit dem Recht auf informationelle |
235 | Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 |
236 | GG Rechnung getragen werden. Ziel der Regelung war es, der |
237 | im digitalen Kontext allgegenwärtigen Identifizierbarkeit |
238 | durch die Zuordnung eindeutiger digitaler Kennungen |
239 | entgegenzutreten. Die Begriffe „anonymisieren“ und |
240 | „pseudonymisieren“ werden im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) |
241 | in § 3 „Weitere Begriffsbestimmungen“ definiert. Unter dem |
242 | Begriff anonymisieren wird die Veränderung personenbezogener |
243 | Daten derart verstanden, „dass die Einzelangaben über |
244 | persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur |
245 | mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten |
246 | und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren |
247 | natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Mit dem |
248 | Begriff „pseudonymisieren“ ist „das Ersetzen des Namens und |
249 | anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“ |
250 | gemeint, „zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen |
251 | auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“ |
252 | |
253 | Die Ermöglichung einer anonymen und pseudonymen Nutzung |
254 | basiert auf der RICHTLINIE 2002/58/EG DES EUROPÄISCHEN |
255 | PARLAMENTS UND DES RATES vom 12. Juli 2002 über die |
256 | Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der |
257 | Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation |
258 | (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation). |
259 | Dort heißt es in den Erwägungsgründen, dass die Verarbeitung |
260 | personenbezogener Daten auf das erforderliche Mindestmaß und |
261 | die Verwendung anonymer oder pseudonymer Daten beschränkt |
262 | werden soll. |
263 | |
264 | Diese grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers findet |
265 | auch bei der Nutzung von Angeboten zur politischen |
266 | Partizipation und Kommunikation Anwendung. [FN: Der |
267 | intendierten Zwecksetzung durch den Gesetzgeber würde eine |
268 | grundsätzliche Anwendbarkeit von Anonymisierungs- und |
269 | Pseudonymisierungsmöglichkeiten auch bei der Nutzung von |
270 | Angeboten zur politischen Partizipation und Kommunikation |
271 | entsprechen.] Neue Herausforderungen für die Gewährleistung |
272 | der Anonymität im Internet können sich unter Umständen durch |
273 | die flächendeckende Einführung des neuen Protokollstandards |
274 | IPv6 ergeben. [FN: Vgl. PG Zugang, Struktur und Sicherheit, |
275 | Kapitel 1.2.2] |
276 | |
277 | Anonyme bzw. pseudonyme Nutzung von sozialen Netzwerken |
278 | Der Streit um den Wert anonymer Kommunikation entzündet sich |
279 | nicht nur an derzeitigen – und zusätzlich geforderten – |
280 | staatlichen Kennzeichnungspflichten, sondern auch am Handeln |
281 | privater Plattformen und Kommunikationstools, die Anmeldung |
282 | nur mit Klarnamen zulassen (etwa Google+). [FN: Boyd, Danah |
283 | (2011): „Real Names“ Policies Are an Abuse of Power, 4. |
284 | August 2011. |
285 | http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-na |
286 | mes.html] |
287 | |
288 | Seitens der Anbieter wird die Verwendung von Pseudonymen |
289 | oder aber falschen Namen über die Allgemeinen |
290 | Geschäftsbedingungen ausgeschlossen bzw. als |
291 | vertragswidriges Verhalten definiert. Gegen diese Praxis |
292 | wird eingewendet, dass so eine Vielzahl von |
293 | personenbezogenen Daten entstehen würde, über die die Nutzer |
294 | schnell die Kontrolle verlieren könnten. Weiterhin wird |
295 | kritisiert, dass zahlreiche rechtliche Bestimmungen nicht |
296 | eingehalten würden. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass |
297 | auch Dritte Zugriff auf die personenbezogenen Daten nehmen |
298 | könnten und sie beispielsweise für Werbung oder aber die |
299 | Erstellung von Persönlichkeitsprofilen verwenden würden. |
300 | Zudem gibt es Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur |
301 | namentlichen Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich |
302 | Personen am Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert |
303 | sehen, weil sie negative Konsequenzen einer Äußerung in |
304 | beruflicher und persönlicher Hinsicht oder gezielte |
305 | Profilbildung anhand dieser politischen Meinungsbekundungen |
306 | fürchten. Es soll verhindert werden, dass in solchen |
307 | Situationen eine Form der Selbstzensur (sogenannter Chilling |
308 | effect) greift. |
309 | |
310 | Diese vorgenannten Fragen sind auch für die aktive |
311 | politische Kommunikation und Partizipation von Nutzern im |
312 | Internet von Bedeutung, da viele Abgeordnete der nationalen |
313 | Parlamente und des Europäischen Parlamentes eine |
314 | Kommunikation via sozialer Netzwerke unterstützen und |
315 | ermöglichen. Eine Zuordnung von politischen |
316 | Meinungsäußerungen im Rahmen der Erstellung von |
317 | Persönlichkeitsprofilen ist daher durchaus denkbar und |
318 | könnte für andere Teilnehmer des politischen Diskurses zudem |
319 | von besonderer Qualität sein. Als mögliche Interessenten |
320 | hierfür kommen u. a. Unternehmen aus den Bereichen Marketing |
321 | und Public Relations sowie einzelne Interessenvertreter und |
322 | –verbände. Auch einzelne Personen aus privatem oder |
323 | beruflichem Umfeld könnten sich dafür interessieren. |
324 | |
325 | Die Anbieter entsprechender Netzwerke berufen sich jedoch |
326 | grundsätzlich auf § 13 Abs. 6 des Telemediengesetzes, der |
327 | eine Pflicht zur Anonymisierung oder Pseudonymisierung dann |
328 | nicht vorschreiben würde, wenn diese nicht zumutbar sei. Da |
329 | soziale Netzwerke gerade auf personenbezogenen Daten beruhen |
330 | würden und ohne solche nicht funktionieren könnten, bestünde |
331 | keine Verpflichtung, einen anonymen oder aber pseudonymen |
332 | Zugriff für die Nutzer zu ermöglichen. Dieser Argumentation |
333 | steht die Position von Datenschützern und anderen entgegen, |
334 | die darauf verweisen, dass gerade in sozialen Netzwerken |
335 | eine pseudonymisierte Nutzung im Sinne des Grundrechts und |
336 | Datenschutzes möglich sein muss. Auch die anhaltenden |
337 | datenschutzrechtlichen Herausforderungen von sozialen |
338 | Netzwerken führen dazu, deren pseudonymisierte |
339 | Nutzungsmöglichkeit als Schutz zu diskutieren. Es gibt aber |
340 | auch soziale Netzwerke, die vornehmlich zur Darstellung der |
341 | beruflichen Qualifikation ihrer Mitglieder bestimmt sind. |
342 | Bei diesen ist die Verwendung von Klarnamen ursächlich für |
343 | das gesamte Geschäftsmodell an sich. Zudem käme es nicht zu |
344 | einer umfassenden Profilbildung bzw. eine Weitergabe von |
345 | Daten an Dritte fände nicht statt. Bei anderen |
346 | Geschäftsmodellen steht die Anonymität stärker im |
347 | Vordergrund. So bietet beispielsweise der |
348 | Microbloggingdienst Twitter auch eine anonyme Registrierung |
349 | der Nutzer an. |
350 | |
351 | Eine abschließende rechtliche Klärung der aufgeworfenen |
352 | Fragen durch nationale oder ggf. europäische Gerichte steht |
353 | noch aus (zur wissenschaftlichen Aufarbeitung Heilmann |
354 | 2012). |
355 | Neue Herausforderungen für die Gewährleistung der Anonymität |
356 | können sich unter Umständen zudem durch die Einführung des |
357 | neuen Web-Standards IPv6 ergeben, der die Zahl der |
358 | verfügbaren, eindeutig identifizierbaren IP-Adressen |
359 | deutlich erhöhen wird. Aus diesem Grund wird es künftig |
360 | nicht mehr unbedingt notwendig sein, die Teilnehmer am |
361 | Internet mit dynamischen Adressen auszustatten. Vielmehr |
362 | werden statische Adressen vergeben werden können, mit der |
363 | Folge, dass die Identifikation einzelner Teilnehmer |
364 | erleichtert wird (dazu Hoeren, Anonymität im Web – |
365 | Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, ZRP 2010, 251, 252 |
366 | ff.). Hier berührt sich die Debatte mit der über |
367 | informationelle Selbstbestimmung im Netz. |
Der Text verglichen mit der Originalversion
1 | Im Rahmen der politischen Teilhabe und Partizipation stellt |
2 | sich seit jeher auch die Frage, inwiefern diese |
3 | personalisiert oder aber anonym erfolgen kann. Kommunikation |
4 | im Internet beinhaltet eine neue Qualität, denn das Internet |
5 | wird als ein wichtiges Medium für anonyme Kommunikation |
6 | angesehen. Es ermöglicht einen politischen Meinungsaustausch |
7 | ohne unmittelbaren persönlichen Bezug und ohne direkte |
8 | Identifikation des Gesprächspartners. Erfolgt Kommunikation |
9 | anonym, ist also bei der Äußerung nicht klar, wer |
10 | kommuniziert, so verändert dies generell die |
11 | Gesprächssituation mit Folgen für die Interessen des |
12 | Kommunizierenden und Dritter. So entfallen zunächst |
13 | Informationen über den Äußernden, was die Überzeugungskraft |
14 | der Aussage bei Zuhörern reduzieren kann. Darüber hinaus hat |
15 | die anonyme Äußerung Folgen für Dritte, die von der Aussage |
16 | betroffen sind. Ihnen fehlen Informationen zur Einschätzung |
17 | des Sprechers; die Identifizierbarkeit ist erschwert, was |
18 | die Rechtsverfolgung beeinträchtigen kann, etwa wenn |
19 | Persönlichkeitsrechte durch die Aussage betroffen sind. |
20 | Letzteres gilt auch für die Durchsetzung öffentlicher |
21 | Interessen, etwa der Strafverfolgung, oder aber auch im |
22 | Bereich des Jugendschutzes. Dass der Sprecher sich nicht zu |
23 | erkennen gibt, bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich |
24 | und rechtlich eine Identifikation unmöglich ist. |
25 | |
26 | Mit der fehlenden Rückführbarkeit auf eine Person wird auch |
27 | die soziale Kontrolle weniger wirksam; so wird beobachtet, |
28 | dass bei anonymer Kommunikation die Sprecher enthemmt sein |
29 | können bzw. sich nicht an soziale Konventionen halten. Die |
30 | Verringerung sozialer Kontrolle ist, anders herum, |
31 | beispielsweise in Abhängigkeitsbeziehungen etwa bei |
32 | Arbeitnehmern oder Auszubildenden mit der Möglichkeit |
33 | verbunden, sich ohne Furcht vor Sanktionen äußern zu können. |
34 | Insofern können der öffentlichen Kommunikation Äußerungen |
35 | verloren gehen, die – wenn keine anonyme Kommunikation |
36 | möglich ist – aus Furcht vor solchen Reaktionen |
37 | unterbleiben. Die anonyme oder pseudonyme Nutzung ermöglicht |
38 | es den Bürgerinnen und Bürgern also, im Einzelfall und nach |
39 | ihrem eigenen Dafürhalten eine Meinung frei artikulieren zu |
40 | können, ohne Ächtung und Nachteile befürchten zu müssen. |
41 | Dies ist essentiell für die freie Meinungsbildung in einer |
42 | Demokratie. Es entspricht zudem auch der Begegnung im |
43 | öffentlichen Raum, wo sich Menschen zunächst ohne |
44 | Namensnennung begegnen und einander dann vorstellen, wenn |
45 | sie selbst es für geboten halten. |
46 | |
47 | Welche der vorgenannten Wirkungen des anonymen |
48 | Kommunizierens für rechtliche Einordnungen relevant sind, |
49 | hängt daher stark vom Kontext der Äußerungen ab. [FN: Vgl. |
50 | zu den vorgenannten Kriterien und ihrer rechtlichen |
51 | Einordnung Heilmann, Stefan (2012): Informationspflichten im |
52 | Telemedienrecht und User-generated Content, Hamburg (in |
53 | Vorbereitung).] |
54 | |
55 | Politische Auseinandersetzungen in Demokratien werden in |
56 | unterschiedlichen Medien und Ebenen geführt. Hierbei können |
57 | auch wiederkehrende Abläufe und Verhaltensweisen |
58 | festgestellt werden. So wird beispielsweise gefordert, dass |
59 | die politische Auseinandersetzung im Regelfall mit „offenem |
60 | Visier“ stattfinden sollte. Schließlich sei eine |
61 | Personalisierung von politischen Äußerungen in Deutschland |
62 | auch nicht mit vergleichbaren negativen Folgen verbunden, |
63 | wie dies in autoritären Regimen ohne einen die Grundrechte |
64 | garantierenden Rechtsstaat der Fall ist. Für die Staaten des |
65 | Arabischen Frühlings war die Möglichkeit einer anonymen |
66 | Kommunikation ein wichtiger Faktor, der das Aufbäumen für |
67 | mehr Demokratie gefördert hat. Denn die Möglichkeit zur |
68 | freien Meinungsäußerung, unbeobachteten Kommunikation oder |
69 | aber unabhängige Medien waren in diesen Staaten größtenteils |
70 | nicht vorhanden bzw. wurden eingeschränkt. Das Internet und |
71 | auch die Sozialen Netzwerke haben daher einen wichtigen |
72 | Beitrag für die Freiheitsbewegungen in diesen Ländern |
73 | geleistet. Besonders in anderen Staaten, in denen Menschen |
74 | noch immer nicht frei ihre politische Überzeugung und |
75 | Meinung äußern können, spielt die durch das Internet |
76 | gewährleistete Anonymität eine grundlegende Rolle bei der |
77 | politischen Diskussion. |
78 | |
79 | Gleichwohl können sich Nachteile ergeben, etwa durch den |
80 | Bezug zu einem Arbeitgeber. Darüber hinaus wird angeführt, |
81 | dass politische Auseinandersetzungen gerade von einer |
82 | namentlichen Zuordnung zu einzelnen Aussagen profitieren |
83 | können. Eine persönliche Verantwortung für den Inhalt könne |
84 | ihnen eine höhere Bedeutung verleihen und sie können somit |
85 | auch an Einfluss gewinnen. Nichtsdestotrotz obliegt es in |
86 | einer freiheitlichen Gesellschaft letztlich dem |
87 | Kommunikationsteilnehmer selbst, wie er sich und seine |
88 | politische Auffassung präsentieren möchte. Schließlich trägt |
89 | er hierfür auch die Verantwortung. |
90 | |
91 | |
92 | |
93 | Die nachfolgenden Kapitel sind durch die Fraktionen CDU/CSU |
94 | und FDP streitig gestellt. Es liegt ein Alternativtext vor |
95 | (s. A-Drs. 17 (24) 053 A, |
96 | http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun |
97 | gen/20120625/A-Drs_17_24_053_A_-_PG_Demokratie_und_Staat_Alt |
98 | ernativtext_CDU_CSU_und_FDP_Kap__1_4_2_5_1__1_4_2_5_2.pdf ) |
99 | |
100 | |
101 | Anonymität im Internet |
102 | Den normativen Rahmen bildet der verfassungsrechtliche |
103 | Schutz der Kommunikation in seiner derzeitigen Gestalt. Der |
104 | Rahmen ist komplex und in den Strukturen umstritten, er kann |
105 | hier nur skizziert werden. Anknüpfend an verschiedene |
106 | mögliche Formen des anonymen Handelns wäre zunächst das |
107 | anonyme bloße Surfen zu thematisieren. Für dessen Schutz |
108 | erscheint eine Herleitung aus dem Allgemeinen |
109 | Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 |
110 | GG, möglich. [FN: so etwa Denninger, Erhard, Anonymität – |
111 | Erscheinungsformen und verfassungsrechtliche Fundierung, in: |
112 | Bäumler, Helmut/von Mutius, Albert (Hrsg.) (2003): |
113 | Anonymität im Internet – Grundlagen, Methoden und Tools zur |
114 | Realisierung eines Grundrechts, Braunschweig, S. 41 ff.] |
115 | Ebenso wird auf das Recht auf informationelle |
116 | Selbstbestimmung zurückgegriffen. [Vgl. Bäumler, Das Recht |
117 | auf Anonymität, a.a.O., S. 1 ff.] Schwieriger ist die |
118 | Einordnung aktiver kommunikativer Nutzung. |
119 | |
120 | Wenn es um die aktive anonyme Kommunikation geht, geraten |
121 | auch die Kommunikationsfreiheiten ins Blickfeld. Hier ist |
122 | Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die Meinungsfreiheit, betroffen, auch |
123 | anonym Geäußertes ist grundsätzlich geschützt. Dies hat die |
124 | Rechtsprechung jüngst auch für Internet-basierte |
125 | Kommunikation herausgearbeitet, sehr deutlich vor allem im |
126 | Rahmen der „Spickmich-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs |
127 | (BGHZ 181, 328 = NJW 2009, 2888 = MMR 2009, 608 |
128 | „Spickmich“). Darin ging es um die Zulässigkeit |
129 | personenbezogener Bewertungsportale (in diesem Falle von |
130 | Lehrern) im Internet. Zum Wert der anonymen Kommunikation |
131 | führte der BGH aus: |
132 | |
133 | „[38] Die Datenerhebung ist auch nicht deshalb unzulässig, |
134 | weil sie wegen der begrenzten Anzahl der anonymen |
135 | Bewertungen ungeeignet wäre, das Interesse der Nutzer zu |
136 | befriedigen. Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent |
137 | (vgl. Senat VersR 2007, 1004, 1005 [= MMR 2007, 518]). |
138 | Dementsprechende Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten ggü. |
139 | dem Diensteanbieter finden sich in den §§12 ff. TMG, den |
140 | Nachfolgeregelungen zu §4 Abs. 4 Nr.10 TDG. Eine |
141 | Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, |
142 | die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können, |
143 | ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die |
144 | Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung |
145 | zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich, um den |
146 | es im Streitfall geht, die Gefahr begründen, dass der |
147 | Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen |
148 | negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine |
149 | Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll |
150 | durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung |
151 | entgegengewirkt werden (vgl. Ballhausen/Roggenkamp, K&R |
152 | 2008, 403, 406).“ |
153 | |
154 | Diese Wertung steht im Einklang mit früheren Entscheidungen |
155 | des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. Demnach |
156 | verleiht die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit als |
157 | „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in |
158 | der Gesellschaft“ [BVerfGE 7, 198, 208; siehe auch BVerfGE |
159 | 85, 23, 31.] dem Einzelnen das Recht, autonom darüber zu |
160 | entscheiden, ob er seine Identität in der Kommunikation zu |
161 | erkennen gibt. |
162 | |
163 | Dass anonym Geäußertes vollen grundrechtlichen Schutz |
164 | genießt, bedeutet nicht, dass der Staat das anonyme |
165 | Kommunizieren nicht ganz oder teilweise unterbinden, also |
166 | etwa Kennzeichnungspflichten als grundrechtseinschränkende |
167 | Maßnahmen vorsehen darf. Dazu existieren bereits Regelungen |
168 | zu den „allgemeinen Informationspflichten“ in Form des § 5 |
169 | Abs. 1 TMG und § 55 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag, wobei |
170 | letzterer Kommunikation ausschließlich zu privaten Zwecken |
171 | von Kennzeichnungspflichten befreit, also anonym zulässt. |
172 | Die Regelungen arbeiten mit zahlreichen unbestimmten |
173 | Begriffen („persönliche oder familiäre Zwecke“, „in der |
174 | Regel entgeltlich“, „geschäftsmäßig“), was die Anwendung |
175 | erschwert, zumal auch der Adressat der Regelung nicht immer |
176 | eindeutig zu bestimmen ist (der Plattformanbieter, der Autor |
177 | eines Blogbeitrages oder gar eines einzelnen |
178 | Twitter-Feeds?). |
179 | |
180 | Kennzeichnungspflichten reagieren auf Risiken anonymer |
181 | Kommunikation, etwa Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung (im |
182 | Hinblick auf kommerzielle oder auch etwa |
183 | persönlichkeitsrechtliche Interessen), aber auch |
184 | Manipulationsrisiken. [FN: vgl. etwa Gomille, Christian: |
185 | Prangerwirkung und Manipulationsgefahr bei Bewertungsforen |
186 | im Internet, ZUM 2009, 815, 821 f.] Als ein mögliches |
187 | Szenario sei etwa die Vortäuschung von Meinungsmacht über |
188 | die Verwendung mehrerer Identitäten auf Bewertungsportalen |
189 | genannt (sock-puppeting). |
190 | |
191 | Kennzeichnungspflichten greifen ihrerseits in Grundrechte |
192 | ein, je nach Angebot in Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit) |
193 | oder Abs. 2 GG (Medienfreiheiten), auch Eingriffe in andere |
194 | Grundrechte sind je nach Kontext und Folgen möglich. |
195 | |
196 | Über eine „kommunikationstheoretische Deutung des |
197 | allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ kommt Bizer [FN: Bizer |
198 | Johann, Das Recht auf Anonymität in der Zange gesetzlicher |
199 | Identifizierungspflichten, in: Bäumler, Helmut/von Mutius, |
200 | Albert (Hrsg.) (2003): Anonymität im Internet – Grundlagen, |
201 | Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts, |
202 | Braunschweig, S. 78 ff.] darüber hinaus explizit zu einem |
203 | Recht auf Anonymität. Hintergrund solcher Ansätze zur |
204 | Begründung eines Rechts auf anonyme Kommunikation sind |
205 | Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur namentlichen |
206 | Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich Personen am |
207 | Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert sehen, weil |
208 | sie die Konsequenzen einer Äußerung fürchteten. Es soll |
209 | verhindert werden, dass in solchen Situationen eine Form der |
210 | Selbstzensur greift (siehe auch BGH, a.a.O.). Es liegt nahe, |
211 | dass dort, wo eine Pflicht zum Klarnamen besonders |
212 | weitreichende Folgen hat – also etwa der öffentlichen |
213 | Kommunikation, bei der strukturell Inhalte verloren gehen – |
214 | die Beeinträchtigung der Kommunikationsfreiheit besonders |
215 | groß ist. Ob das derzeitige rechtliche Konzept der |
216 | Kennzeichnungspflichten den verfassungsrechtlichen |
217 | Anforderungen genügt, ist bislang weder wissenschaftlich |
218 | noch in der Rechtsprechung abschließend geklärt. |
219 | |
220 | Zudem verweist der BGH auf einfachgesetzlicher Ebene darauf, |
221 | dass die §§ 12 ff. TMG den Nutzern grundsätzlich ein Recht |
222 | zur anonymen Nutzung des Internets einräumen (müssen), |
223 | insbesondere aus § 13 Abs. 6 TMG [FN: Roggenkamp Jan, |
224 | Kommentar zu: BGH, Urteil vom 23.06.2009 - VI ZR 196/08, |
225 | Kommunikation und Recht (K&R), 2009, 571, 572.]; siehe dazu |
226 | Rz. [42] des Urteils. |
227 | |
228 | Das deutsche Recht sieht – sowohl im Telemediengesetz als |
229 | auch im Rundfunkstaatsvertrag – die Ermöglichung einer |
230 | anonymen und pseudonymen Nutzung vor, soweit dies technisch |
231 | möglich und zumutbar ist. Darüber hinaus muss der Nutzer |
232 | über diese Möglichkeit informiert werden. Damit soll von |
233 | vornherein die Entstehung personenbezogener Daten verhindert |
234 | werden und somit dem Recht auf informationelle |
235 | Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 |
236 | GG Rechnung getragen werden. Ziel der Regelung war es, der |
237 | im digitalen Kontext allgegenwärtigen Identifizierbarkeit |
238 | durch die Zuordnung eindeutiger digitaler Kennungen |
239 | entgegenzutreten. Die Begriffe „anonymisieren“ und |
240 | „pseudonymisieren“ werden im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) |
241 | in § 3 „Weitere Begriffsbestimmungen“ definiert. Unter dem |
242 | Begriff anonymisieren wird die Veränderung personenbezogener |
243 | Daten derart verstanden, „dass die Einzelangaben über |
244 | persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur |
245 | mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten |
246 | und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren |
247 | natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Mit dem |
248 | Begriff „pseudonymisieren“ ist „das Ersetzen des Namens und |
249 | anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“ |
250 | gemeint, „zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen |
251 | auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“ |
252 | |
253 | Die Ermöglichung einer anonymen und pseudonymen Nutzung |
254 | basiert auf der RICHTLINIE 2002/58/EG DES EUROPÄISCHEN |
255 | PARLAMENTS UND DES RATES vom 12. Juli 2002 über die |
256 | Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der |
257 | Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation |
258 | (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation). |
259 | Dort heißt es in den Erwägungsgründen, dass die Verarbeitung |
260 | personenbezogener Daten auf das erforderliche Mindestmaß und |
261 | die Verwendung anonymer oder pseudonymer Daten beschränkt |
262 | werden soll. |
263 | |
264 | Diese grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers findet |
265 | auch bei der Nutzung von Angeboten zur politischen |
266 | Partizipation und Kommunikation Anwendung. [FN: Der |
267 | intendierten Zwecksetzung durch den Gesetzgeber würde eine |
268 | grundsätzliche Anwendbarkeit von Anonymisierungs- und |
269 | Pseudonymisierungsmöglichkeiten auch bei der Nutzung von |
270 | Angeboten zur politischen Partizipation und Kommunikation |
271 | entsprechen.] Neue Herausforderungen für die Gewährleistung |
272 | der Anonymität im Internet können sich unter Umständen durch |
273 | die flächendeckende Einführung des neuen Protokollstandards |
274 | IPv6 ergeben. [FN: Vgl. PG Zugang, Struktur und Sicherheit, |
275 | Kapitel 1.2.2] |
276 | |
277 | Anonyme bzw. pseudonyme Nutzung von sozialen Netzwerken |
278 | Der Streit um den Wert anonymer Kommunikation entzündet sich |
279 | nicht nur an derzeitigen – und zusätzlich geforderten – |
280 | staatlichen Kennzeichnungspflichten, sondern auch am Handeln |
281 | privater Plattformen und Kommunikationstools, die Anmeldung |
282 | nur mit Klarnamen zulassen (etwa Google+). [FN: Boyd, Danah |
283 | (2011): „Real Names“ Policies Are an Abuse of Power, 4. |
284 | August 2011. |
285 | http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-na |
286 | mes.html] |
287 | |
288 | Seitens der Anbieter wird die Verwendung von Pseudonymen |
289 | oder aber falschen Namen über die Allgemeinen |
290 | Geschäftsbedingungen ausgeschlossen bzw. als |
291 | vertragswidriges Verhalten definiert. Gegen diese Praxis |
292 | wird eingewendet, dass so eine Vielzahl von |
293 | personenbezogenen Daten entstehen würde, über die die Nutzer |
294 | schnell die Kontrolle verlieren könnten. Weiterhin wird |
295 | kritisiert, dass zahlreiche rechtliche Bestimmungen nicht |
296 | eingehalten würden. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass |
297 | auch Dritte Zugriff auf die personenbezogenen Daten nehmen |
298 | könnten und sie beispielsweise für Werbung oder aber die |
299 | Erstellung von Persönlichkeitsprofilen verwenden würden. |
300 | Zudem gibt es Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur |
301 | namentlichen Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich |
302 | Personen am Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert |
303 | sehen, weil sie negative Konsequenzen einer Äußerung in |
304 | beruflicher und persönlicher Hinsicht oder gezielte |
305 | Profilbildung anhand dieser politischen Meinungsbekundungen |
306 | fürchten. Es soll verhindert werden, dass in solchen |
307 | Situationen eine Form der Selbstzensur (sogenannter Chilling |
308 | effect) greift. |
309 | |
310 | Diese vorgenannten Fragen sind auch für die aktive |
311 | politische Kommunikation und Partizipation von Nutzern im |
312 | Internet von Bedeutung, da viele Abgeordnete der nationalen |
313 | Parlamente und des Europäischen Parlamentes eine |
314 | Kommunikation via sozialer Netzwerke unterstützen und |
315 | ermöglichen. Eine Zuordnung von politischen |
316 | Meinungsäußerungen im Rahmen der Erstellung von |
317 | Persönlichkeitsprofilen ist daher durchaus denkbar und |
318 | könnte für andere Teilnehmer des politischen Diskurses zudem |
319 | von besonderer Qualität sein. Als mögliche Interessenten |
320 | hierfür kommen u. a. Unternehmen aus den Bereichen Marketing |
321 | und Public Relations sowie einzelne Interessenvertreter und |
322 | –verbände. Auch einzelne Personen aus privatem oder |
323 | beruflichem Umfeld könnten sich dafür interessieren. |
324 | |
325 | Die Anbieter entsprechender Netzwerke berufen sich jedoch |
326 | grundsätzlich auf § 13 Abs. 6 des Telemediengesetzes, der |
327 | eine Pflicht zur Anonymisierung oder Pseudonymisierung dann |
328 | nicht vorschreiben würde, wenn diese nicht zumutbar sei. Da |
329 | soziale Netzwerke gerade auf personenbezogenen Daten beruhen |
330 | würden und ohne solche nicht funktionieren könnten, bestünde |
331 | keine Verpflichtung, einen anonymen oder aber pseudonymen |
332 | Zugriff für die Nutzer zu ermöglichen. Dieser Argumentation |
333 | steht die Position von Datenschützern und anderen entgegen, |
334 | die darauf verweisen, dass gerade in sozialen Netzwerken |
335 | eine pseudonymisierte Nutzung im Sinne des Grundrechts und |
336 | Datenschutzes möglich sein muss. Auch die anhaltenden |
337 | datenschutzrechtlichen Herausforderungen von sozialen |
338 | Netzwerken führen dazu, deren pseudonymisierte |
339 | Nutzungsmöglichkeit als Schutz zu diskutieren. Es gibt aber |
340 | auch soziale Netzwerke, die vornehmlich zur Darstellung der |
341 | beruflichen Qualifikation ihrer Mitglieder bestimmt sind. |
342 | Bei diesen ist die Verwendung von Klarnamen ursächlich für |
343 | das gesamte Geschäftsmodell an sich. Zudem käme es nicht zu |
344 | einer umfassenden Profilbildung bzw. eine Weitergabe von |
345 | Daten an Dritte fände nicht statt. Bei anderen |
346 | Geschäftsmodellen steht die Anonymität stärker im |
347 | Vordergrund. So bietet beispielsweise der |
348 | Microbloggingdienst Twitter auch eine anonyme Registrierung |
349 | der Nutzer an. |
350 | |
351 | Eine abschließende rechtliche Klärung der aufgeworfenen |
352 | Fragen durch nationale oder ggf. europäische Gerichte steht |
353 | noch aus (zur wissenschaftlichen Aufarbeitung Heilmann |
354 | 2012). |
355 | Neue Herausforderungen für die Gewährleistung der Anonymität |
356 | können sich unter Umständen zudem durch die Einführung des |
357 | neuen Web-Standards IPv6 ergeben, der die Zahl der |
358 | verfügbaren, eindeutig identifizierbaren IP-Adressen |
359 | deutlich erhöhen wird. Aus diesem Grund wird es künftig |
360 | nicht mehr unbedingt notwendig sein, die Teilnehmer am |
361 | Internet mit dynamischen Adressen auszustatten. Vielmehr |
362 | werden statische Adressen vergeben werden können, mit der |
363 | Folge, dass die Identifikation einzelner Teilnehmer |
364 | erleichtert wird (dazu Hoeren, Anonymität im Web – |
365 | Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, ZRP 2010, 251, 252 |
366 | ff.). Hier berührt sich die Debatte mit der über |
367 | informationelle Selbstbestimmung im Netz. |
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