01.04.06 Partizipation und Anonymität

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  • 01.04.06 Partizipation und Anonymität (Originalversion)

    von EnqueteSekretariat, angelegt
    1 Im Rahmen der politischen Teilhabe und Partizipation stellt
    2 sich seit jeher auch die Frage, inwiefern diese
    3 personalisiert oder aber anonym erfolgen kann. Kommunikation
    4 im Internet beinhaltet eine neue Qualität, denn das Internet
    5 wird als ein wichtiges Medium für anonyme Kommunikation
    6 angesehen. Es ermöglicht einen politischen Meinungsaustausch
    7 ohne unmittelbaren persönlichen Bezug und ohne direkte
    8 Identifikation des Gesprächspartners. Erfolgt Kommunikation
    9 anonym, ist also bei der Äußerung nicht klar, wer
    10 kommuniziert, so verändert dies generell die
    11 Gesprächssituation mit Folgen für die Interessen des
    12 Kommunizierenden und Dritter. So entfallen zunächst
    13 Informationen über den Äußernden, was die Überzeugungskraft
    14 der Aussage bei Zuhörern reduzieren kann. Darüber hinaus hat
    15 die anonyme Äußerung Folgen für Dritte, die von der Aussage
    16 betroffen sind. Ihnen fehlen Informationen zur Einschätzung
    17 des Sprechers; die Identifizierbarkeit ist erschwert, was
    18 die Rechtsverfolgung beeinträchtigen kann, etwa wenn
    19 Persönlichkeitsrechte durch die Aussage betroffen sind.
    20 Letzteres gilt auch für die Durchsetzung öffentlicher
    21 Interessen, etwa der Strafverfolgung, oder aber auch im
    22 Bereich des Jugendschutzes. Dass der Sprecher sich nicht zu
    23 erkennen gibt, bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich
    24 und rechtlich eine Identifikation unmöglich ist.
    25
    26 Mit der fehlenden Rückführbarkeit auf eine Person wird auch
    27 die soziale Kontrolle weniger wirksam; so wird beobachtet,
    28 dass bei anonymer Kommunikation die Sprecher enthemmt sein
    29 können bzw. sich nicht an soziale Konventionen halten. Die
    30 Verringerung sozialer Kontrolle ist, anders herum,
    31 beispielsweise in Abhängigkeitsbeziehungen etwa bei
    32 Arbeitnehmern oder Auszubildenden mit der Möglichkeit
    33 verbunden, sich ohne Furcht vor Sanktionen äußern zu können.
    34 Insofern können der öffentlichen Kommunikation Äußerungen
    35 verloren gehen, die – wenn keine anonyme Kommunikation
    36 möglich ist – aus Furcht vor solchen Reaktionen
    37 unterbleiben. Die anonyme oder pseudonyme Nutzung ermöglicht
    38 es den Bürgerinnen und Bürgern also, im Einzelfall und nach
    39 ihrem eigenen Dafürhalten eine Meinung frei artikulieren zu
    40 können, ohne Ächtung und Nachteile befürchten zu müssen.
    41 Dies ist essentiell für die freie Meinungsbildung in einer
    42 Demokratie. Es entspricht zudem auch der Begegnung im
    43 öffentlichen Raum, wo sich Menschen zunächst ohne
    44 Namensnennung begegnen und einander dann vorstellen, wenn
    45 sie selbst es für geboten halten.
    46
    47 Welche der vorgenannten Wirkungen des anonymen
    48 Kommunizierens für rechtliche Einordnungen relevant sind,
    49 hängt daher stark vom Kontext der Äußerungen ab. [FN: Vgl.
    50 zu den vorgenannten Kriterien und ihrer rechtlichen
    51 Einordnung Heilmann, Stefan (2012): Informationspflichten im
    52 Telemedienrecht und User-generated Content, Hamburg (in
    53 Vorbereitung).]
    54
    55 Politische Auseinandersetzungen in Demokratien werden in
    56 unterschiedlichen Medien und Ebenen geführt. Hierbei können
    57 auch wiederkehrende Abläufe und Verhaltensweisen
    58 festgestellt werden. So wird beispielsweise gefordert, dass
    59 die politische Auseinandersetzung im Regelfall mit „offenem
    60 Visier“ stattfinden sollte. Schließlich sei eine
    61 Personalisierung von politischen Äußerungen in Deutschland
    62 auch nicht mit vergleichbaren negativen Folgen verbunden,
    63 wie dies in autoritären Regimen ohne einen die Grundrechte
    64 garantierenden Rechtsstaat der Fall ist. Für die Staaten des
    65 Arabischen Frühlings war die Möglichkeit einer anonymen
    66 Kommunikation ein wichtiger Faktor, der das Aufbäumen für
    67 mehr Demokratie gefördert hat. Denn die Möglichkeit zur
    68 freien Meinungsäußerung, unbeobachteten Kommunikation oder
    69 aber unabhängige Medien waren in diesen Staaten größtenteils
    70 nicht vorhanden bzw. wurden eingeschränkt. Das Internet und
    71 auch die Sozialen Netzwerke haben daher einen wichtigen
    72 Beitrag für die Freiheitsbewegungen in diesen Ländern
    73 geleistet. Besonders in anderen Staaten, in denen Menschen
    74 noch immer nicht frei ihre politische Überzeugung und
    75 Meinung äußern können, spielt die durch das Internet
    76 gewährleistete Anonymität eine grundlegende Rolle bei der
    77 politischen Diskussion.
    78
    79 Gleichwohl können sich Nachteile ergeben, etwa durch den
    80 Bezug zu einem Arbeitgeber. Darüber hinaus wird angeführt,
    81 dass politische Auseinandersetzungen gerade von einer
    82 namentlichen Zuordnung zu einzelnen Aussagen profitieren
    83 können. Eine persönliche Verantwortung für den Inhalt könne
    84 ihnen eine höhere Bedeutung verleihen und sie können somit
    85 auch an Einfluss gewinnen. Nichtsdestotrotz obliegt es in
    86 einer freiheitlichen Gesellschaft letztlich dem
    87 Kommunikationsteilnehmer selbst, wie er sich und seine
    88 politische Auffassung präsentieren möchte. Schließlich trägt
    89 er hierfür auch die Verantwortung.
    90
    91
    92
    93 Die nachfolgenden Kapitel sind durch die Fraktionen CDU/CSU
    94 und FDP streitig gestellt. Es liegt ein Alternativtext vor
    95 (s. A-Drs. 17 (24) 053 A,
    96 http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun
    97 gen/20120625/A-Drs_17_24_053_A_-_PG_Demokratie_und_Staat_Alt
    98 ernativtext_CDU_CSU_und_FDP_Kap__1_4_2_5_1__1_4_2_5_2.pdf )
    99
    100
    101 Anonymität im Internet
    102 Den normativen Rahmen bildet der verfassungsrechtliche
    103 Schutz der Kommunikation in seiner derzeitigen Gestalt. Der
    104 Rahmen ist komplex und in den Strukturen umstritten, er kann
    105 hier nur skizziert werden. Anknüpfend an verschiedene
    106 mögliche Formen des anonymen Handelns wäre zunächst das
    107 anonyme bloße Surfen zu thematisieren. Für dessen Schutz
    108 erscheint eine Herleitung aus dem Allgemeinen
    109 Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1
    110 GG, möglich. [FN: so etwa Denninger, Erhard, Anonymität –
    111 Erscheinungsformen und verfassungsrechtliche Fundierung, in:
    112 Bäumler, Helmut/von Mutius, Albert (Hrsg.) (2003):
    113 Anonymität im Internet – Grundlagen, Methoden und Tools zur
    114 Realisierung eines Grundrechts, Braunschweig, S. 41 ff.]
    115 Ebenso wird auf das Recht auf informationelle
    116 Selbstbestimmung zurückgegriffen. [Vgl. Bäumler, Das Recht
    117 auf Anonymität, a.a.O., S. 1 ff.] Schwieriger ist die
    118 Einordnung aktiver kommunikativer Nutzung.
    119
    120 Wenn es um die aktive anonyme Kommunikation geht, geraten
    121 auch die Kommunikationsfreiheiten ins Blickfeld. Hier ist
    122 Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die Meinungsfreiheit, betroffen, auch
    123 anonym Geäußertes ist grundsätzlich geschützt. Dies hat die
    124 Rechtsprechung jüngst auch für Internet-basierte
    125 Kommunikation herausgearbeitet, sehr deutlich vor allem im
    126 Rahmen der „Spickmich-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs
    127 (BGHZ 181, 328 = NJW 2009, 2888 = MMR 2009, 608
    128 „Spickmich“). Darin ging es um die Zulässigkeit
    129 personenbezogener Bewertungsportale (in diesem Falle von
    130 Lehrern) im Internet. Zum Wert der anonymen Kommunikation
    131 führte der BGH aus:
    132
    133 „[38] Die Datenerhebung ist auch nicht deshalb unzulässig,
    134 weil sie wegen der begrenzten Anzahl der anonymen
    135 Bewertungen ungeeignet wäre, das Interesse der Nutzer zu
    136 befriedigen. Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent
    137 (vgl. Senat VersR 2007, 1004, 1005 [= MMR 2007, 518]).
    138 Dementsprechende Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten ggü.
    139 dem Diensteanbieter finden sich in den §§12 ff. TMG, den
    140 Nachfolgeregelungen zu §4 Abs. 4 Nr.10 TDG. Eine
    141 Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen,
    142 die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können,
    143 ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die
    144 Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung
    145 zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich, um den
    146 es im Streitfall geht, die Gefahr begründen, dass der
    147 Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen
    148 negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine
    149 Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll
    150 durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung
    151 entgegengewirkt werden (vgl. Ballhausen/Roggenkamp, K&R
    152 2008, 403, 406).“
    153
    154 Diese Wertung steht im Einklang mit früheren Entscheidungen
    155 des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. Demnach
    156 verleiht die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit als
    157 „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in
    158 der Gesellschaft“ [BVerfGE 7, 198, 208; siehe auch BVerfGE
    159 85, 23, 31.] dem Einzelnen das Recht, autonom darüber zu
    160 entscheiden, ob er seine Identität in der Kommunikation zu
    161 erkennen gibt.
    162
    163 Dass anonym Geäußertes vollen grundrechtlichen Schutz
    164 genießt, bedeutet nicht, dass der Staat das anonyme
    165 Kommunizieren nicht ganz oder teilweise unterbinden, also
    166 etwa Kennzeichnungspflichten als grundrechtseinschränkende
    167 Maßnahmen vorsehen darf. Dazu existieren bereits Regelungen
    168 zu den „allgemeinen Informationspflichten“ in Form des § 5
    169 Abs. 1 TMG und § 55 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag, wobei
    170 letzterer Kommunikation ausschließlich zu privaten Zwecken
    171 von Kennzeichnungspflichten befreit, also anonym zulässt.
    172 Die Regelungen arbeiten mit zahlreichen unbestimmten
    173 Begriffen („persönliche oder familiäre Zwecke“, „in der
    174 Regel entgeltlich“, „geschäftsmäßig“), was die Anwendung
    175 erschwert, zumal auch der Adressat der Regelung nicht immer
    176 eindeutig zu bestimmen ist (der Plattformanbieter, der Autor
    177 eines Blogbeitrages oder gar eines einzelnen
    178 Twitter-Feeds?).
    179
    180 Kennzeichnungspflichten reagieren auf Risiken anonymer
    181 Kommunikation, etwa Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung (im
    182 Hinblick auf kommerzielle oder auch etwa
    183 persönlichkeitsrechtliche Interessen), aber auch
    184 Manipulationsrisiken. [FN: vgl. etwa Gomille, Christian:
    185 Prangerwirkung und Manipulationsgefahr bei Bewertungsforen
    186 im Internet, ZUM 2009, 815, 821 f.] Als ein mögliches
    187 Szenario sei etwa die Vortäuschung von Meinungsmacht über
    188 die Verwendung mehrerer Identitäten auf Bewertungsportalen
    189 genannt (sock-puppeting).
    190
    191 Kennzeichnungspflichten greifen ihrerseits in Grundrechte
    192 ein, je nach Angebot in Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit)
    193 oder Abs. 2 GG (Medienfreiheiten), auch Eingriffe in andere
    194 Grundrechte sind je nach Kontext und Folgen möglich.
    195
    196 Über eine „kommunikationstheoretische Deutung des
    197 allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ kommt Bizer [FN: Bizer
    198 Johann, Das Recht auf Anonymität in der Zange gesetzlicher
    199 Identifizierungspflichten, in: Bäumler, Helmut/von Mutius,
    200 Albert (Hrsg.) (2003): Anonymität im Internet – Grundlagen,
    201 Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts,
    202 Braunschweig, S. 78 ff.] darüber hinaus explizit zu einem
    203 Recht auf Anonymität. Hintergrund solcher Ansätze zur
    204 Begründung eines Rechts auf anonyme Kommunikation sind
    205 Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur namentlichen
    206 Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich Personen am
    207 Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert sehen, weil
    208 sie die Konsequenzen einer Äußerung fürchteten. Es soll
    209 verhindert werden, dass in solchen Situationen eine Form der
    210 Selbstzensur greift (siehe auch BGH, a.a.O.). Es liegt nahe,
    211 dass dort, wo eine Pflicht zum Klarnamen besonders
    212 weitreichende Folgen hat – also etwa der öffentlichen
    213 Kommunikation, bei der strukturell Inhalte verloren gehen –
    214 die Beeinträchtigung der Kommunikationsfreiheit besonders
    215 groß ist. Ob das derzeitige rechtliche Konzept der
    216 Kennzeichnungspflichten den verfassungsrechtlichen
    217 Anforderungen genügt, ist bislang weder wissenschaftlich
    218 noch in der Rechtsprechung abschließend geklärt.
    219
    220 Zudem verweist der BGH auf einfachgesetzlicher Ebene darauf,
    221 dass die §§ 12 ff. TMG den Nutzern grundsätzlich ein Recht
    222 zur anonymen Nutzung des Internets einräumen (müssen),
    223 insbesondere aus § 13 Abs. 6 TMG [FN: Roggenkamp Jan,
    224 Kommentar zu: BGH, Urteil vom 23.06.2009 - VI ZR 196/08,
    225 Kommunikation und Recht (K&R), 2009, 571, 572.]; siehe dazu
    226 Rz. [42] des Urteils.
    227
    228 Das deutsche Recht sieht – sowohl im Telemediengesetz als
    229 auch im Rundfunkstaatsvertrag – die Ermöglichung einer
    230 anonymen und pseudonymen Nutzung vor, soweit dies technisch
    231 möglich und zumutbar ist. Darüber hinaus muss der Nutzer
    232 über diese Möglichkeit informiert werden. Damit soll von
    233 vornherein die Entstehung personenbezogener Daten verhindert
    234 werden und somit dem Recht auf informationelle
    235 Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1
    236 GG Rechnung getragen werden. Ziel der Regelung war es, der
    237 im digitalen Kontext allgegenwärtigen Identifizierbarkeit
    238 durch die Zuordnung eindeutiger digitaler Kennungen
    239 entgegenzutreten. Die Begriffe „anonymisieren“ und
    240 „pseudonymisieren“ werden im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)
    241 in § 3 „Weitere Begriffsbestimmungen“ definiert. Unter dem
    242 Begriff anonymisieren wird die Veränderung personenbezogener
    243 Daten derart verstanden, „dass die Einzelangaben über
    244 persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur
    245 mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten
    246 und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren
    247 natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Mit dem
    248 Begriff „pseudonymisieren“ ist „das Ersetzen des Namens und
    249 anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“
    250 gemeint, „zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen
    251 auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“
    252
    253 Die Ermöglichung einer anonymen und pseudonymen Nutzung
    254 basiert auf der RICHTLINIE 2002/58/EG DES EUROPÄISCHEN
    255 PARLAMENTS UND DES RATES vom 12. Juli 2002 über die
    256 Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der
    257 Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation
    258 (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation).
    259 Dort heißt es in den Erwägungsgründen, dass die Verarbeitung
    260 personenbezogener Daten auf das erforderliche Mindestmaß und
    261 die Verwendung anonymer oder pseudonymer Daten beschränkt
    262 werden soll.
    263
    264 Diese grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers findet
    265 auch bei der Nutzung von Angeboten zur politischen
    266 Partizipation und Kommunikation Anwendung. [FN: Der
    267 intendierten Zwecksetzung durch den Gesetzgeber würde eine
    268 grundsätzliche Anwendbarkeit von Anonymisierungs- und
    269 Pseudonymisierungsmöglichkeiten auch bei der Nutzung von
    270 Angeboten zur politischen Partizipation und Kommunikation
    271 entsprechen.] Neue Herausforderungen für die Gewährleistung
    272 der Anonymität im Internet können sich unter Umständen durch
    273 die flächendeckende Einführung des neuen Protokollstandards
    274 IPv6 ergeben. [FN: Vgl. PG Zugang, Struktur und Sicherheit,
    275 Kapitel 1.2.2]
    276
    277 Anonyme bzw. pseudonyme Nutzung von sozialen Netzwerken
    278 Der Streit um den Wert anonymer Kommunikation entzündet sich
    279 nicht nur an derzeitigen – und zusätzlich geforderten –
    280 staatlichen Kennzeichnungspflichten, sondern auch am Handeln
    281 privater Plattformen und Kommunikationstools, die Anmeldung
    282 nur mit Klarnamen zulassen (etwa Google+). [FN: Boyd, Danah
    283 (2011): „Real Names“ Policies Are an Abuse of Power, 4.
    284 August 2011.
    285 http://www.zephoria.org/thoughts/archives/2011/08/04/real-na
    286 mes.html]
    287
    288 Seitens der Anbieter wird die Verwendung von Pseudonymen
    289 oder aber falschen Namen über die Allgemeinen
    290 Geschäftsbedingungen ausgeschlossen bzw. als
    291 vertragswidriges Verhalten definiert. Gegen diese Praxis
    292 wird eingewendet, dass so eine Vielzahl von
    293 personenbezogenen Daten entstehen würde, über die die Nutzer
    294 schnell die Kontrolle verlieren könnten. Weiterhin wird
    295 kritisiert, dass zahlreiche rechtliche Bestimmungen nicht
    296 eingehalten würden. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass
    297 auch Dritte Zugriff auf die personenbezogenen Daten nehmen
    298 könnten und sie beispielsweise für Werbung oder aber die
    299 Erstellung von Persönlichkeitsprofilen verwenden würden.
    300 Zudem gibt es Befürchtungen, dass bei einer Pflicht zur
    301 namentlichen Äußerung die Gefahr bestehen könnte, dass sich
    302 Personen am Gebrauch ihrer Kommunikationsfreiheit gehindert
    303 sehen, weil sie negative Konsequenzen einer Äußerung in
    304 beruflicher und persönlicher Hinsicht oder gezielte
    305 Profilbildung anhand dieser politischen Meinungsbekundungen
    306 fürchten. Es soll verhindert werden, dass in solchen
    307 Situationen eine Form der Selbstzensur (sogenannter Chilling
    308 effect) greift.
    309
    310 Diese vorgenannten Fragen sind auch für die aktive
    311 politische Kommunikation und Partizipation von Nutzern im
    312 Internet von Bedeutung, da viele Abgeordnete der nationalen
    313 Parlamente und des Europäischen Parlamentes eine
    314 Kommunikation via sozialer Netzwerke unterstützen und
    315 ermöglichen. Eine Zuordnung von politischen
    316 Meinungsäußerungen im Rahmen der Erstellung von
    317 Persönlichkeitsprofilen ist daher durchaus denkbar und
    318 könnte für andere Teilnehmer des politischen Diskurses zudem
    319 von besonderer Qualität sein. Als mögliche Interessenten
    320 hierfür kommen u. a. Unternehmen aus den Bereichen Marketing
    321 und Public Relations sowie einzelne Interessenvertreter und
    322 –verbände. Auch einzelne Personen aus privatem oder
    323 beruflichem Umfeld könnten sich dafür interessieren.
    324
    325 Die Anbieter entsprechender Netzwerke berufen sich jedoch
    326 grundsätzlich auf § 13 Abs. 6 des Telemediengesetzes, der
    327 eine Pflicht zur Anonymisierung oder Pseudonymisierung dann
    328 nicht vorschreiben würde, wenn diese nicht zumutbar sei. Da
    329 soziale Netzwerke gerade auf personenbezogenen Daten beruhen
    330 würden und ohne solche nicht funktionieren könnten, bestünde
    331 keine Verpflichtung, einen anonymen oder aber pseudonymen
    332 Zugriff für die Nutzer zu ermöglichen. Dieser Argumentation
    333 steht die Position von Datenschützern und anderen entgegen,
    334 die darauf verweisen, dass gerade in sozialen Netzwerken
    335 eine pseudonymisierte Nutzung im Sinne des Grundrechts und
    336 Datenschutzes möglich sein muss. Auch die anhaltenden
    337 datenschutzrechtlichen Herausforderungen von sozialen
    338 Netzwerken führen dazu, deren pseudonymisierte
    339 Nutzungsmöglichkeit als Schutz zu diskutieren. Es gibt aber
    340 auch soziale Netzwerke, die vornehmlich zur Darstellung der
    341 beruflichen Qualifikation ihrer Mitglieder bestimmt sind.
    342 Bei diesen ist die Verwendung von Klarnamen ursächlich für
    343 das gesamte Geschäftsmodell an sich. Zudem käme es nicht zu
    344 einer umfassenden Profilbildung bzw. eine Weitergabe von
    345 Daten an Dritte fände nicht statt. Bei anderen
    346 Geschäftsmodellen steht die Anonymität stärker im
    347 Vordergrund. So bietet beispielsweise der
    348 Microbloggingdienst Twitter auch eine anonyme Registrierung
    349 der Nutzer an.
    350
    351 Eine abschließende rechtliche Klärung der aufgeworfenen
    352 Fragen durch nationale oder ggf. europäische Gerichte steht
    353 noch aus (zur wissenschaftlichen Aufarbeitung Heilmann
    354 2012).
    355 Neue Herausforderungen für die Gewährleistung der Anonymität
    356 können sich unter Umständen zudem durch die Einführung des
    357 neuen Web-Standards IPv6 ergeben, der die Zahl der
    358 verfügbaren, eindeutig identifizierbaren IP-Adressen
    359 deutlich erhöhen wird. Aus diesem Grund wird es künftig
    360 nicht mehr unbedingt notwendig sein, die Teilnehmer am
    361 Internet mit dynamischen Adressen auszustatten. Vielmehr
    362 werden statische Adressen vergeben werden können, mit der
    363 Folge, dass die Identifikation einzelner Teilnehmer
    364 erleichtert wird (dazu Hoeren, Anonymität im Web –
    365 Grundfragen und aktuelle Entwicklungen, ZRP 2010, 251, 252
    366 ff.). Hier berührt sich die Debatte mit der über
    367 informationelle Selbstbestimmung im Netz.