05.01 Tatsächliche Veränderungen politischer Kommunikation und Interaktion - Neuer Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation

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  • 05.01 Tatsächliche Veränderungen politischer Kommunikation und Interaktion - Neuer Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation (Originalversion)

    von EnqueteSekretariat, angelegt
    1 In politikwissenschaftlichen, staats- und
    2 verfassungsrechtlichen Theorien nimmt Öffentlichkeit
    3 typischerweise einen Platz „zwischen Staat und Gesellschaft“
    4 ein. [FN: Überblicke bei Scherzberg, Die Öffentlichkeit der
    5 Verwaltung, S. 289 ff.; Altmann, Das Problem der
    6 Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die moderne
    7 Demokratie, S. 131 ff.; Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff
    8 des Öffentlichen, S. 75 ff., 166 ff.; Rinken, Das
    9 Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem dargestellt
    10 am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände, S. 249 ff.; Häberle,
    11 Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 558 ff.]
    12 Das Grundgesetz nimmt implizit auf Öffentlichkeit Bezug,
    13 wenn es um die legitimatorische Abstützung staatlichen
    14 Handelns geht. Öffentlichkeit selbst wird in der Verfassung
    15 nicht definiert.
    16
    17 Öffentlichkeit kommt eine zentrale Funktion im Prozess
    18 demokratischer Willensbildung zu; das verfassungsrechtliche
    19 Konzept knüpft also an gesellschaftliche Leistungen und
    20 Funktionen an, die selbst außerhalb des rechtlich normierten
    21 „in der Gesellschaft“ liegen. Dieser Wirkungszusammenhang
    22 ist allerdings nicht einseitig modelliert.
    23 Orientiert man sich an der Rechtsprechung des
    24 Bundesverfassungsgerichts, so zeigt sich beim Bezug auf
    25 „Öffentlichkeit“ eine funktionale Kopplung an soziale
    26 Realität, die zu einem Neujustieren des
    27 Öffentlichkeitsbegriffs führen kann, wenn die Realität sich
    28 wandelt. [FN: Vgl. Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 11 und S.,
    29 41.] Die staatliche Teilhabe an öffentlicher Kommunikation
    30 hat sich demnach im Laufe der Zeit grundlegen gewandelt und
    31 verändert sich unter den gegenwärtigen Bedingungen
    32 fortlaufend weiter. Die gewachsene Rolle der Massenmedien,
    33 der Ausbau moderner Informationsdienste wirken sich auch auf
    34 die Art der Aufgabenerfüllung durch die Regierung aus. [FN:
    35 BVerfG 2002 – Urteil Osho-Sekte ] Einschränkungen bestehen
    36 jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
    37 weiterhin für den Bereich der Justiz. [FN: BVefG 2001 – N-TV
    38 Urteil ]
    39
    40 Die Kopplung des Normativen an das Faktische folgt
    41 insbesondere aus dem Rückgriff, den das Grundgesetz in Art.
    42 20 Abs. 1 und dem Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 2 Satz 1
    43 auf Legitimationsverfahren nimmt. Zu Recht wird
    44 festgestellt, dass mit diesem Rückgriff das Grundgesetz eine
    45 Herrschaftsordnung etabliert, die die Souveränität des
    46 Volkes in einer nach demokratischen Grundsätzen
    47 organisierten Selbstbestimmung realisiert. [FN: Böckenförde,
    48 § 24 Demokratie als Verfassungsprinzip, Rz. 35. In:
    49 Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der
    50 Bundesrepublik Deutschland, Band 2.] Dabei wird „Volk“ mit
    51 „Öffentlichkeit“ gleichgesetzt. [FN: „Öffentlichkeit im
    52 Sinne des Grundgesetzes ist zunächst das Volk“, so Rinken,
    53 Geschichte und heutige Valenz des Öffentlichen, S. 34. In:
    54 Winter (Hrsg.), Das Öffentliche heute.]
    55
    56 Aus diesen Funktionen folgen einige verfassungsrechtliche
    57 Leitlinien, die bei einem (neuen) Strukturwandel der
    58 Öffentlichkeit durch das Internet zu prüfen und in ihren
    59 Konsequenzen auszuloten sind. So geht man davon aus, dass
    60 vor allem zwei Institutio-nen bei der „Herstellung“ von
    61 Öffentlichkeit eine besondere Rolle spielen, die daher beide
    62 verfassungsrechtlich besonders geschützt sind: die
    63 Massenmedien und die politischen Parteien.
    64
    65 Den Massenmedien kommt – so das BVerfG [FN: BVerfGE 20, 162
    66 (175)] – eine Aufgabe als Medium und Faktor der Meinungs-
    67 und Willensbildung zu, die sich „in“ der Öffentlichkeit
    68 vollzieht. Öffentlichkeit wird hier im Sinne einer
    69 bürgerlichen Öffentlichkeit als Ort verstanden, in dem in
    70 Rede und Gegenrede das gesellschaftlich Wichtige und
    71 Richtige entsteht. Öffentlich ist dabei aber auch das
    72 Medium, in dem Politik sich beobachten kann. Gefahren für
    73 die Erfüllung dieser Funktionen können durch staatlichen
    74 Einfluss, aber auch durch machtvolle gesellschaftliche
    75 Akteure (etwa Medienunternehmen) entstehen. Die Rolle der
    76 Massenmedien und ihr Wandel in der digitalen Gesellschaft
    77 wird in der PG „Kultur, Öffentlichkeit, Medien“ näher
    78 untersucht.
    79
    80 Aus dem Verständnis der Öffentlichkeit als Ort der
    81 gesellschaftlichen Willensbildung folgen auch
    82 verfassungsrechtlich abgestützte Grenzen der Einwirkung der
    83 Staatsorgane auf die Öffentlichkeit. Dies betrifft
    84 insbesondere, aber nicht nur, die bereits zuvor erwähnte
    85 Öffentlichkeitsarbeit der Regierung. [FN: Vgl. BverfG
    86 Osho-Sekte und Glykol-Warnung
    87 ]
    88
    89 Im Rahmen seiner schriftlichen Stellungnahme zur
    90 öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission Internet und
    91 digitale Gesellschaft zum Thema „Strukturwandel der
    92 politischen Kommunikation und Partizipation“ äußerte sich
    93 der Sachverständige Christoph Kappes wie folgt: „Die
    94 „digitale Öffentlichkeit“ ist eine Öffentlichkeit wie die
    95 prädigitale Öffentlichkeit auch, nur dass ihre Kommunikation
    96 folgende strukturellen Abweichungen hat. Sie
    97 • ist nicht flüchtig (jedenfalls nicht mittelfristig)
    98 • ist häufig formell aufeinander verweisend (Links)
    99 • geschieht jederzeit, (d.h. sie ist nicht an Zeiten
    100 gebunden)
    101 • hat viele verschiedene Inhaltsformate (Beiträge,
    102 Kommentare, Tweets, Mikrointeraktionen etc.)
    103 • ist dezentral organisiert
    104 • erschließt sich erst durch die Abfrage-Dimension (d.h. der
    105 Empfänger ent-scheidet mit, was er sieht)
    106 • ist auch personengetrieben, nicht nur dokumentgetrieben
    107 • wird häufig ohne kommerzielle Ziele initiiert („Aufreger“,
    108 „Besinnungsbei-trag“)
    109 Vergleicht man die Öffentlichkeit in einem Satz mit der
    110 klassischen Öffentlichkeit, so ist sie diverser,
    111 regelfreier, pulsierender, unübersichtlicher,
    112 überraschender, lebhafter. Der Grund dafür ist, dass die
    113 meisten Beteiligten ohne Geschäftsmodell operieren, rein
    114 „immateriell “-gesteuert sind (im positiven Sinne, zweckfrei
    115 ihre Meinung zu sagen, sich zu erproben, ein soziales Umfeld
    116 zu beeinflussen etc.), nie in festen Strukturen arbeiten,
    117 kaum auf inhaltliche Rahmen Rücksicht nehmen müssen.“ [FN:
    118 Vgl. die schriftliche Stellungnahme von Christoph Kappes zur
    119 öffentlichen Anhörung „Strukturwandel der politischen
    120 Kommunikation und Partizipation“ der Enquete-Kommission
    121 Internet und digitale Gesellschaft am 19. März 2012. A-Drs/
    122 17(24)049-E, Protokoll Nr. 17/15, online abrufbar unter:
    123 http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun
    124 gen/20120319/A-Drs_17_24_049-E_-_Stellungnahme_Kappes_19_3_2
    125 012.pdf]
    126
    127 Der Strukturwandel der Öffentlichkeit beruht auf Änderungen
    128 im Kommunikationsver-halten, die nicht vorhersehbar sind.
    129 Dabei ist der Begriff der Öffentlichkeit neu zu defi-nieren.
    130 Mit Blick auf die Agenda-Setzung, Transparenz, Datenschutz
    131 und Open Access ist auszuhandeln, was künftig öffentlich
    132 sein soll und was nicht. Die Einbeziehung möglichst aller
    133 relevanten Akteure ist dabei Voraussetzung für die spätere
    134 Akzeptanz der Ergebnisse. [FN: Vgl. die schriftliche
    135 Stellungnahme von Prof. Dr. Gerhard Vowe zur öffentlichen
    136 Anhörung „Strukturwandel der politischen Kommunikation und
    137 Partizipation“ der Enquete-Kommission Internet und digitale
    138 Gesellschaft am 19. März 2012. A-Drs/ 17(24)049-B, Protokoll
    139 Nr. 17/15, online abrufbar unter:
    140 http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Sitzun
    141 gen/20120319/A-Drs_17_24_049-B_-_Stellungnahme_Prof_Dr_Vowe_
    142 19_3_2012.pdf]