01.04.06.01 Anonymität im Internet

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  • 01.04.06.01 Anonymität im Internet (Originalversion)

    von EnqueteSekretariat, angelegt
    1 Gerade angesichts der zunehmend ubiquitären, alltäglich
    2 gewordenen digitalen Erfassung nimmt der Schutz des Rechts
    3 auf informationelle Selbstbestimmung und des allgemeinen
    4 Per-sönlichkeitsrechts eine besondere Rolle ein. Die
    5 konkrete Umsetzung eines Rechts auf Ano-nymität wirft aber
    6 auch schwierige rechtliche und technische Fragen auf. So
    7 kann beispiels-weise ein anonymes Handeln aus technischen
    8 Gründen im Internet nicht immer gewährleistet werden.
    9 Darüber hinaus können auch andere Rechtsgüter im Rahmen
    10 einer Güterabwägung zu einer Einschränkung des Rechts
    11 führen. In der rechtlichen Würdigung ist zudem zwischen
    12 rechtlichen Vorgaben zur Identifizierbarkeit und zwischen
    13 der freiwilligen Offenbarung der eigenen Identität zu
    14 unterscheiden.[FN: Siehe hierzu auch das Kapitel
    15 Datenschutz, Persönlichkeitsrechte]
    16
    17 Auch der verfassungsrechtliche Schutz der Kommunikation ist
    18 komplex und in Einzelfragen durchaus umstritten. Er kann
    19 daher nachfolgend hier nur skizziert werden.
    20
    21 Wenn es um die aktive anonyme Kommunikation geht, geraten
    22 zunächst die Kommunikati-onsfreiheiten ins Blickfeld. Hier
    23 ist Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die Meinungsfreiheit, betroffen,
    24 auch anonym Geäußertes ist grundsätzlich geschützt. Gemäß §
    25 13 Abs. 6 TMG sind Diensteanbieter gesetzlich verpflichtet,
    26 die Nutzung von Telemedien und ihre Bezahlung ano-nym oder
    27 unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch
    28 möglich und zumutbar ist. Sie müssen darüber hinaus den
    29 Nutzer über diese Möglichkeit informieren. Damit soll von
    30 vornherein die Entstehung personenbezogener Daten verhindert
    31 werden und somit dem Recht auf informationelle
    32 Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1
    33 GG Rechnung getragen werden.
    34
    35 Diese Entscheidung des Gesetzgebers findet auch bei der
    36 Nutzung von Angeboten zur politi-schen Partizipation und
    37 Kommunikation Anwendung. Hinzu kommt, dass sich nach der
    38 Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs [FN:
    39 „Spickmich-Entscheidung“ Urteil vom 23.06.2009 – Az.: VI ZR
    40 196/08] auch aus der grundgesetzlich geschützten
    41 Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG das Recht auf
    42 eine anonyme Nutzung des Internets zur Meinungsäußerung
    43 herleiten lässt. Im Rahmen der „Spickmich-Entscheidung“ des
    44 Bundesgerichtshofs [FN: BGHZ 181, 328 = NJW 2009, 2888 = MMR
    45 2009, 608 „Spickmich“] ging es um die Zulässigkeit
    46 personenbezogener Bewertungsportale (in diesem Falle von
    47 Lehrern) im Internet. Zum Wert der anonymen Kommunikation
    48 führte der BGH darin aus:
    49
    50 „[38] Die Datenerhebung ist auch nicht deshalb unzulässig,
    51 weil sie wegen der be-grenzten Anzahl der anonymen
    52 Bewertungen ungeeignet wäre, das Interesse der Nutzer zu
    53 befriedigen. Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent
    54 (vgl. Senat VersR 2007, 1004, 1005 [= MMR 2007, 518]).
    55 Dementsprechende Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten ggü.
    56 dem Diensteanbieter finden sich in den §§12 ff. TMG, den
    57 Nach-folgeregelungen zu §4 Abs. 4 Nr.10 TDG. Eine
    58 Beschränkung der Meinungsäuße-rungsfreiheit auf Äußerungen,
    59 die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können,
    60 ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die
    61 Verpflichtung, sich na-mentlich zu einer bestimmten Meinung
    62 zu bekennen, würde nicht nur im schulischen Bereich, um den
    63 es im Streitfall geht, die Gefahr begründen, dass der
    64 Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen
    65 negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine
    66 Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll
    67 durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung
    68 entgegengewirkt werden (vgl. Ballhau-sen/Roggenkamp, K&R
    69 2008, 403, 406).“
    70
    71 Diese Wertung steht im Einklang mit früheren Entscheidungen
    72 des Bundesverfassungsge-richts zur Meinungsfreiheit. Demnach
    73 verleiht die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit als
    74 „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in
    75 der Gesellschaft“70 dem Einzelnen das Recht, autonom darüber
    76 zu entscheiden, ob er seine Identität in der Kommuni-kation
    77 zu erkennen gibt.
    78
    79 Die Ermöglichung einer anonymen und pseudonymen Nutzung
    80 basiert zudem auf den Vorga-ben der Richtlinie 2002/58/EG
    81 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 12. Juli 2002
    82 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz
    83 der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation
    84 (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation).
    85 Dort heißt es in den Erwägungsgründen, dass die Verarbeitung
    86 personenbezogener Daten auf das erforderliche Mindestmaß und
    87 die Verwendung anonymer oder pseudonymer Daten be-schränkt
    88 werden soll. Die Begriffe „anonymisieren“ und
    89 „pseudonymiseren“ werden im Bun-desdatenschutzgesetz (BDSG)
    90 in § 3 „Weitere Begriffsbestimmungen“ definiert. Unter dem
    91 Begriff anonymisieren wird die Veränderung personenbezogener
    92 Daten derart verstanden, „dass die Einzelangaben über
    93 persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur
    94 mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten
    95 und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren
    96 natürlichen Person zugeordnet werden können.“ Mit dem
    97 Begriff „pseudonymisieren“ ist „das Ersetzen des Namens und
    98 anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“
    99 gemeint, „zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen
    100 auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“
    101
    102 Durch die rechtlichen Vorgaben soll von vornherein die
    103 Entstehung personenbezogener Daten verhindert werden und
    104 somit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach
    105 Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung getragen
    106 werden. Ziel der Regelung war es, der im digitalen Kontext
    107 allgegenwärtigen Identifizierbarkeit durch die Zuordnung
    108 eindeutiger digitaler Kennungen entgegenzutreten. Diese
    109 grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers findet auch bei
    110 der Nutzung von Angeboten zur politischen Partizipation und
    111 Kommunikation Anwendung.74
    112
    113 Anonym Geäußertes genießt also vollen grundrechtlichen
    114 Schutz. Darüber hinaus gibt es al-lerdings gesetzliche
    115 Regelungen, die diesen zumindest teilweise wieder
    116 einschränken, etwa Kennzeichnungspflichten.
    117
    118 Neben der in § 13 Abs. 6 TMG selbst eingeführten Schranke
    119 der Zumutbarkeit für den Anbie-ter existieren weitere
    120 Einschränkungen aufgrund „allgemeiner Informationspflichten“
    121 in Form des § 5 Abs. 1 TMG und § 55 Abs. 1
    122 Rundfunkstaatsvertrag (z.B. Impressumspflicht).
    123 Kom-munikationsangebote ausschließlich zu privaten Zwecken
    124 sind von solchen Pflichten zur Kennzeichnung befreit. Die
    125 vorgenannten Regelungen beinhalten allerdings eine Vielzahl
    126 von unbestimmten Rechtsbegriffen (z. B. „persönliche oder
    127 familiäre Zwecke“, „in der Regel ent-geltlich“,
    128 „geschäftsmäßig“), was die Anwendung erschwert, zumal auch
    129 der Adressat der Regelung nicht immer eindeutig zu bestimmen
    130 ist (der Plattformanbieter, der Autor eines Blogbeitrages
    131 oder gar eines einzelnen Twitter-Feeds?).
    132
    133 Kennzeichnungspflichten reagieren auf Risiken anonymer
    134 Kommunikation, etwa Schwierig-keiten der Rechtsverfolgung
    135 (im Hinblick auf kommerzielle oder auch etwa
    136 persönlichkeits-rechtliche Interessen), aber auch
    137 Manipulationsrisiken.71 Als ein mögliches Szenario sei etwa
    138 die Vortäuschung von Meinungsmacht über die Verwendung
    139 mehrerer Identitäten auf Bewer-tungsportalen genannt (sog.
    140 sock-puppeting).
    141
    142 Neue Herausforderungen für die Gewährleistung der Anonymität
    143 im Internet können sich unter Umständen durch die
    144 flächendeckende Einführung des neuen Protokollstandards IPv6
    145 ergeben, der die Zahl der insgesamt verfügbaren IP-Adressen
    146 deutlich erhöhen wird.75 Aus diesem Grund wird es künftig
    147 nicht mehr unbedingt notwendig sein, die Teilnehmer am
    148 Inter-net mit dynamischen Adressen auszustatten. Vielmehr
    149 werden häufiger statische Adressen vergeben werden, mit der
    150 Folge, dass die Identifikation einzelner Teilnehmer
    151 erleichtert wird [FN: Vgl. dazu Hoeren, Thomas (2010):
    152 Anonymität im Web – Grundfragen und aktuelle Entwicklungen,
    153 Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP), S. 251, 252 ff.] Hier
    154 berührt sich die Debatte mit der über informationelle
    155 Selbstbestimmung im Internet. [FN: Siehe hierzu auch das
    156 Kapitel Datenschutz, Persönlichkeitsrechte]